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Herrin der Lüge

Herrin der Lüge

Titel: Herrin der Lüge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Rückseite des Hügels hinunter zum Lagerplatz. Im Westen hatte sich der Himmel goldrot gefärbt, beschien die Zelte der Söldner und die drei Kutschen, die sich am Fuß der Erhebung aneinander drängten. Mit Seilen hatte man eine Koppel für die Pferde abgeteilt. Irgendwo dort unten, das wusste sie, stand Gunthild und starrte den Hügel herauf. Saga konnte sie nicht sehen, aber sie spürte, dass die Nonne sie und die Gräfin nicht aus den Augen ließ.
    Gott, wie sie dieses missgünstige alte Weib hasste. Obwohl, nein, hassen war das falsche Wort. Das war eine Empfindung, die sie sich für Violante aufsparte.
    Allerdings – während sie jetzt gerade miteinander sprachen, auf diesem Hügel bei Sonnenuntergang, umgeben von nichts als friedvoller Natur, da fiel es ihr schwer, für irgendjemanden Hass zu empfinden. Vielleicht war es ja gerade das, was Violante so gefährlich machte. Die Gräfin wusste stets die richtigen Augenblicke, die richtigen Orte für sich und ihre Ziele zu nutzen. Als könnte sie aus allem einen eigenen Vorteil ziehen, sogar aus der Ruhe dieser Landschaft, der Stille des Augenblicks.
    Violante verschränkte die Arme. »Du musst aufhören, in mir eine Feindin zu sehen.«
    Es gab vieles, was Saga darauf hätte erwidern können, aber sie entschied sich einmal mehr, zu schweigen.
    Von hier oben aus konnten sie weiter ins Land hinausblicken als von irgendeinem anderen Ort zuvor, und sie fragte sich, ob das dunkelblaue Band über dem Horizont Gewitterwolken oder bereits die Ausläufer des Gebirges waren. Sie würden die Alpen überqueren, so viel hatte sie mittlerweile herausgefunden. Ihr Weg führte sie nach Mailand in Norditalien. Bischof Karl von Mailand war Gahmurets Cousin zweiten Grades, und aus Gründen, die nur er selbst kannte, hatte er sich schon vor Monaten bereit erklärt, Violantes Vorhaben zu unterstützen – vorausgesetzt es gelänge ihr, den Segen des Papstes für ihren Jungfrauenkreuzzug zu erhalten. Dahinter steckten Motive, die mit den komplizierten Verstrickungen italienischer Hof- und Kirchenpolitik zu tun hatten. Bischof Karl wollte die Überfahrt des Heeres ins Heilige Land finanzieren. Es hieß, alle nötigen Absprachen mit den Venezianern seien bereits getroffen: In der Lagunenstadt wartete eine Flotte von Schiffen auf Violantes Heer.
    Die Überfahrt ins Heilige Land. Liebe Güte, gerade einmal zwei Wochen waren vergangen, seit Saga noch eine Gefangene in einem Turmzimmer gewesen war. Und nun dachte sie bereits mit einer Selbstverständlichkeit über Reisen ans Ende der Welt nach, die sie erschreckte. Violantes Saat ging auf. Saga wusste, dass sie manipuliert wurde, aber sie konnte sich nicht dagegen wehren.
    Die Drohung, Faun töten zu lassen, schwebte noch immer über jedem Satz, den sie mit der Gräfin wechselte. Und doch schien die Gefahr mit jedem Tag ein wenig weiter in die Ferne zu rücken. Gewiss, Violante konnte jederzeit einen Boten aussenden, der das Todesurteil zurück zur Burg trug. Allein die Vorstellung, dass der Überbringer der Nachricht viele Tage lang unterwegs sein würde – Tage, in denen Saga mit dem Wissen weiterleben musste, was geschehen würde, aber nicht das Geringste dagegen unternehmen konnte –, war genug, um ihr die Luft abzuschnüren.
    Doch zugleich – und das entsetzte sie nicht minder – begann sie sich mit den Dingen abzufinden. Sie dachte nicht mehr in jeder Minute über eine Flucht nach, und wenn sie es doch tat, dauerte es nicht lange, bis sie den Plan wieder aufgab. Violante schien Sagas Wandlung zu spüren, denn vor kurzem hatte sie ihr gestattet, sich frei innerhalb des Lagers zu bewegen. Auch durfte sie, wenn sie das wünschte, während der Fahrt vorn auf dem Kutschbock sitzen. Und ob sie wollte! Saga mochte es sich noch immer nicht eingestehen, doch insgeheim genoss sie es, die fremden Ländereien nicht länger durch ein vergittertes Viereck vorüberziehen zu sehen.
    »Morgen also«, sagte sie nachdenklich und blickte wieder zum südlichen Horizont. Die Berge hatten neue Gipfel und Täler gebildet, und sie wanderten jetzt in der Ferne dahin wie eine Karawane exotischer Riesentiere. Also doch kein Gebirge, sondern die Vorboten eines Gewitters.
    »Dort drüben«, sagte Violante und streckte den Arm aus. »Kannst du die Dächer sehen? Gleich hinter dem Tannenwald, an dem kleinen See?«
    Saga kniff die Augen zusammen und nickte.
    »Das Dorf hat keinen Namen. Jedenfalls keinen, den irgendwer außer seinen Bewohnern kennt. Es gibt

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