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Herrin der Lüge

Herrin der Lüge

Titel: Herrin der Lüge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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draußen zu schützen.

Der Ruf der Magdalena
     
    Ich bin gekommen, um euch nach Jerusalem zu führen«, rief Saga über den kleinen Platz im Zentrum des Dorfes. Es hatte zu regnen begonnen, das Wasser staute sich bereits in Pfützen und tiefen Karrenspuren auf dem schlammigen Boden.
    Selbst bei trockenem Wetter musste diese Ansiedlung einen elenden Anblick bieten. Es gab nur wenige Steinhäuser, die meisten Hütten waren aus Holz erbaut und mit Stroh gedeckt. Hühner und Ziegen liefen frei umher, dann und wann aufgescheucht von Hunden mit schmutzverkrustetem Fell. Von den umliegenden Waldhängen wehte das Rauschen von Regentropfen auf Laub herab, durchzogen vom Krächzen hungriger Krähen.
    Saga spürte den Lügengeist in ihrem Inneren vor Aufregung pulsieren und wachsen, so als strebe er danach, sie ganz und gar auszufüllen. Seine Euphorie steckte sie an, und trotz ihrer Skrupel durchfloss sie ein Gefühl von Macht, das sie erschreckte und zugleich seltsam befriedigte. Seine Anwesenheit beruhigte sie, sie spürte ihn wie etwas, das nicht ganz nah war, aber auch nicht fern, jederzeit bereit, über sie hereinzubrechen.
    Sie sprach bereits seit einer ganzen Weile zu der ärmlichen Menschenschar am Fuß des provisorischen Rednerpodests, aber erst jetzt begann sie, sich die Stimme des Lügengeistes zu Nutze zu machen. Am meisten erstaunte sie, dass die Menschen auf dem Dorfplatz ihr bereits gebannt zuhörten, bevor sie überhaupt ihre Lügenmacht einsetzte. Die Erwartungen an die Magdalena waren hoch, seit Monaten durch Gerüchte genährt und gewachsen. Und nun war sie hier, eine Predigerin, die junge Frauen aus dem Elend ihres Daseins befreien wollte.
    »Jerusalem ist die Stadt, in der David und Salomon herrschten«, rief sie mit der Stimme des Lügengeistes in die Menge. Das waren die Worte, die Gunthild für sie vorbereitet hatte. Saga hatte sie auswendig gelernt wie die Texte der Puppenspiele, die ihre Familie oft aufgeführt hatte. »Aber schon lange vor ihnen war Jerusalem bereits der Nabel der Welt, denn hier wirkte Adam und gab sein Leben im Einklang mit Gott. Nirgendwo sonst auf der Welt ist der Herr so nah bei den Menschen. Zwischen Jerusalem und dem allmächtigen Vater besteht eine Verbindung, die bis zum Anbeginn der Zeit zurückreicht. Er schuf die Heilige Stadt genau in der Mitte des Erdenkreises, und wenn er den Menschen seine Liebe und Allmacht zeigen will, dann tut er es auch heute noch zuallererst dort.«
    Saga wollte sich verachten für das, was sie den Menschen auf dem Dorfplatz da weismachte. Stattdessen aber begann sie ihre eigene Darbietung zu genießen. Aus Gründen, die sie nicht verstand, machte es vom Gefühl her keinen Unterschied, ob sie diesen Mädchen und Frauen eine bessere Zukunft versprach oder einem wichtigtuerischen Kaufmann Erfolg im Geschäft.
    Manchmal glaubte sie fast, der Lügengeist ernähre sich von ihrem schlechten Gewissen. Er zehrte davon wie ein Ungeborenes von der Kraft seiner Mutter. Je verwerflicher die Lüge, desto stärker schien er zu werden – und damit auch sie selbst. Er schützte sie vor ihren eigenen Skrupeln. Violante und er hätten gut zueinander gepasst. Sie hätte seine Macht besitzen sollen, dachte Saga, nicht ich. Dann wäre alles viel einfacher. Besonders für Faun.
    Sie schüttelte den Gedanken ab. »In Jerusalem sprach Jesus zu seinen Jüngern. Hier litt er, und hier starb er für uns alle. Es ist unsere Pflicht, auf seinen Pfaden zu wandeln und den Ort seines Wirkens und seines Sterbens für die Christenheit zurückzugewinnen. Wir gemeinsam können das vollbringen! Ihr könnt das vollbringen!«
    Die Mädchen und Frauen des Dorfes drängten sich in den vorderen Reihen. Zinders Söldner schienen überall zugleich zu sein, und ein paar der größten und kräftigsten standen nah bei Saga. Sie achtete darauf, keinen der Männer direkt anzusprechen, ließ ihre Blicke stattdessen immer wieder über die schmutzigen Gesichter der Dorfbewohnerinnen wandern. Beinahe konnte sie sehen, wie der Schatten des Lügengeistes an ihnen haften blieb. In den Augen vieler loderte bereits nach wenigen Worten das Feuer der Überzeugung, manche murmelten zustimmend, andere starrten sie mit offenen Mündern an.
    Natürlich gab es auch Männer unter den Zuhörern. Das Nahen eines Trupps von fünfzig Bewaffneten war Grund genug, den Feldern und Ställen fernzubleiben und sich mit Knüppeln und Werkzeugen zu bewaffnen. Erst als sich herumgesprochen hatte, dass es die Magdalena

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