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Herrin der Lüge

Herrin der Lüge

Titel: Herrin der Lüge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Bereits damals war ihr Plan unumstößlich gewesen. Die Magdalena war ihre Schöpfung, und es gab sie keineswegs erst, seit Saga diese Rolle übernommen hatte. Falls Zinder die Wahrheit sagte, gingen Geschichten über sie seit Monaten von Mund zu Mund, vielleicht seit Jahren.
    »Überall warten sie darauf, dass du auftauchst«, sagte der Söldnerführer und beobachtete jede Nuance ihrer Fassungslosigkeit. »Aber, so frage ich mich, wie kann das sein, wenn du noch keine einzige Predigt gehalten hast? Und wo ist das Heer, das du angeblich anführst?«
    Der Argwohn in seinem Tonfall machte sie stutzig, und da erst wurde ihr bewusst, was das bedeutete. Violante hatte Zinder nicht eingeweiht! Er wusste nicht, wer Saga wirklich war und dass sie gezwungen wurde, etwas zu sein, an das sie selbst gar nicht glaubte.
    Sie senkte die Stimme, als sie sah, dass Violante sich von ihrem Platz am Feuer erhoben hatte. »Warum stellst du diese Fragen nicht der Gräfin?«
    »Weil du die Magdalena bist. Dieses Heer der Frauen, von dem alle munkeln, folgt dir – jedenfalls sollte es so sein, wenn die Gerüchte wahr sind.«
    »Aber hier ist kein Heer«, sagte sie bestürzt, so als wäre das nicht die offensichtlichste Sache der Welt.
    Violantes Stimme schnitt in Zinders Rücken durch das Dunkel und ließ Saga zusammenfahren. »Natürlich ist es nicht hier! Es wartet auf uns in Mailand.«
    Die beiden drehten sich gleichzeitig zu ihr um. »Aber Ihr habt gesagt«, begann Saga, »dass ich predigen soll, damit –«
    »Wir werden ein Gefolge um uns scharen, um nicht wie Bittsteller in Mailand einzutreffen, das ist wahr. Aber glaubst du, ich habe vor, tausende Frauen über die Alpen zu führen? Wie viele kämen wohl lebend auf der anderen Seite an, selbst im Sommer? Wir können es uns nicht leisten, dass Hunderte umkommen, bevor wir überhaupt in See gestochen sind.« Violante löste ihren Blick von Saga und fixierte Zinder. »Und du, Söldnerführer, solltest nicht versuchen, mich zu hintergehen. Ich bin es, die dich und deine Leute bezahlt. Nicht dieses Mädchen.« Sie senkte die Stimme zu einem drohenden Raunen. »Wage es nicht noch einmal, meine Autorität in Frage zu stellen. Ich weiß, dass du es dir nicht leisten kannst, diesen Kontrakt zu verlieren.«
    Saga sah Zinder an und bemerkte, dass seine Wangenmuskeln zuckten. Unterdrückter Zorn gloste in seinen Augen, aber er widersprach nicht.
    »Du hast dir viele Feinde gemacht«, sagte die Gräfin kalt, »als du Philipp im Bürgerkrieg den Rücken gekehrt und die Seiten gewechselt hast. Niemand mag Verräter, auch nicht derjenige, der mit ihrer Hilfe den Sieg davonträgt. Das Geld, das der Bischof von Mailand dir auszahlen wird, wenn du uns heil an seinen Hof bringst, rettet dir und deinem Trupp die Haut.«
    Zinder ballte die Faust um den Schwertgriff. »Ich habe niemanden verraten.«
    »Manche glauben das aber. Schade, dass es gerade diejenigen sind, die heute die Fäden ziehen.«
    »Selbst wenn ich auf Euer Gold angewiesen wäre … Ich muss trotzdem wissen, wen ich beschütze«, knurrte er. »Ob eine Heilige oder eine –«
    »Betrügerin?«
    »Eine Lügnerin«, beendete er seinen Satz. Saga hätte fast hysterisch aufgelacht.
    »Du schützt die Magdalena.« Violante hob die Stimme, damit jeder im Lager sie hören konnte. Erst jetzt bemerkte Saga, dass überall an den Feuern die Gespräche verstummt waren. Dutzende Augenpaare waren auf sie gerichtet. »Und die Magdalena schützt euch!«, setzte die Gräfin hinzu. »Denn es ist Gottes Wille, den sie verkündet, und Gott ist mit ihr und ihrem Werk. Morgen werdet ihr den Beweis dafür bekommen.«
    Zinder sah aus, als wollte er etwas ganz und gar Unchristliches einwenden. Doch im selben Augenblick sprang an einem der Feuer ein Söldner auf und rief: »Ein Hoch auf die Magdalena! Gott ist auf unserer Seite!«
    Andere erhoben sich. »Ein Hoch auf die Magdalena!«, riefen sie im Chor, immer wieder und wieder, bis schließlich alle mit einstimmten, auch jene, denen die Zweifel deutlich ins Gesicht geschrieben standen.
    Nur Zinder schwieg.
    »Komm jetzt«, flüsterte Violante ihr zu, während um sie der Sturm aus Stimmen tobte. »Du musst schlafen.«
    Saga war so wach wie selten zuvor, aber sie nickte benommen, eilte an Violantes ausgestreckter Hand vorbei und verschwand in ihrer Kutsche. Als sie die Tür hinter sich zuzog, hatte sie zum ersten Mal das Gefühl, die Gitter wären nicht da, um sie einzusperren, sondern um sie vor der Welt dort

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