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Herrin der Lüge

Herrin der Lüge

Titel: Herrin der Lüge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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stieg den Trampelpfad durchs Farn hinauf. Mondlicht fiel durch die Lücken im Blätterdach, aber nicht genug, um das Mädchen vom Rand der Senke aus sehen zu können.
    Saga hätte Tiessa zum Sprechen gebracht, dachte er. Seine Schwester verstand es wie keine andere, mehr aus den Leuten herauszulocken, als sie bereit waren preiszugeben, auch ohne den Lügengeist zu benutzen.
    Saga, dachte er. Ich würde mein Leben geben, um dich wieder zurückzubekommen.
    Aber würde er das wirklich? Sein Leben für sie geben?
    Ja, sagte er sich, ganz bestimmt. Aber tief in ihm blieben Zweifel. Bist du wirklich solch ein Held?
    Du bist ihr Bruder.
    Geräusche rissen ihn aus seinen Gedanken. Alarmiert schaute er sich um und bemerkte ein Rascheln in den Baumkronen nahe der Straße. Etwas hatte dort die schlafenden Vögel aufgeschreckt. Vielleicht nur eine Eule auf Beutejagd.
    Oder jemand, der sich anschlich.
    Faun schüttelte die nassfeuchte Kälte ab. Seine einzige Waffe war ein schartiger Dolch, den er unterwegs in einem Dorf gekauft hatte – mit Münzen, die Tiessa ihm gegeben hatte. Die Klinge war schmal und sehr lang. Sie lag unten in der Senke neben seinem Schlafplatz.
    Mit ein paar schnellen Schritten huschte er zurück durchs Farnkraut. Tiessa regte sich und knurrte verschlafen.
    »Bleib liegen!«, flüsterte er ihr zu.
    Er packte den Dolch, den er zum Schlafen von seinem Gürtel gelöst hatte. »Ich will nur nach dem Rechten sehen.«
    Blitzschnell war sie wach und auf den Beinen. »Wo?«, wisperte sie.
    Er seufzte unhörbar und machte sich auf den Weg. »Da war irgendetwas. Vielleicht auf der Straße. Bleib hier!«
    »Ich denk nicht dran.«
    Sie folgte ihm geduckt durchs Dickicht. In Windeseile hatten sie die Senke verlassen und pirschten im Schutz der dicken Stämme zur Straße. Das Gepäck hatten sie zurückgelassen. Nein, bemerkte Faun voller Missmut, er hatte seines zurückgelassen. Tiessa trug wie immer alles Wichtige bei sich – unter anderem den Beutel mit den Goldstücken an ihrem Gürtel und ihren Dolch. Die alberne Stoffpuppe schaute oben aus dem Bündel hervor, das sie sich auf den Rücken geworfen hatte.
    Die Straße war eigentlich kaum mehr als ein mondbeschienener Pfad durch die Wälder. Karrenräder hatten tiefe Furchen hinterlassen, die im Sternenlicht aussahen, als wären sie mit Blei ausgegossen.
    Ein Reiter stand in der Mitte des Weges. Sein langmähniger Schimmel schnaubte leise und rührte sich nicht. Der Mann trug dunkle Kleidung und leichtes Rüstzeug, einen Harnisch aus Leder und Eisenschuppen. Ein kurz geschnittener Bart umrahmte seine harten Züge. Seine Augen waren im steil fallenden Mondschein tiefe Schattenlöcher. Das kalte Nachtlicht entzog ihm alle Farben; unmöglich zu sagen, ob sein Haar braun oder grau oder schwarz war.
    Faun war abrupt stehen geblieben. Tiessa hielt sich hinter ihm, als suche sie Schutz. Der Reiter hatte sie noch nicht bemerkt, die Dunkelheit des Waldes und eine Reihe dichter Haselsträucher verdeckten sie. Trotzdem musste er einen Grund haben, warum er ausgerechnet an dieser Stelle verharrte, so nah bei ihrem Lager. Seine unsichtbaren Augen blickten die Straße entlang, strichen dann über den Waldrand zu beiden Seiten. Dabei schien sein Blick auch Faun und Tiessa zu streifen, wanderte aber weiter, ohne sie in der Dunkelheit des Unterholzes wahrzunehmen.
    Tiessa stupste Faun von hinten an. Ihre Augen waren weit aufgerissen, selbst in der Finsternis sah er die Angst darin. Sie bedeutete ihm mit Gesten umzukehren, doch er schüttelte den Kopf. Ohne auf ihren stummen Protest zu achten, wandte er sich wieder dem Mann auf dem Pferd zu.
    Der Schimmel trug eine edle Satteldecke, das Zaumzeug war verziert. Sein Besitzer war gewiss kein armer Mann. Der Reiter selbst war hochgewachsen und kräftig. Obgleich er nicht mehr jung war, strahlte er Stärke und Entschlossenheit aus. Die Ruhe, mit der er die Umgebung untersuchte, ließ ihn noch bedrohlicher erscheinen.
    Plötzlich legte der Mann den Kopf in den Nacken und stieß ein Krächzen aus. Es klang wie ein Vogelruf, nicht wie etwas, das einem Menschen über die Lippen kommt. Tiessa stieß Faun erneut an, aber diesmal drehte er sich nicht einmal zu ihr um. Kein Zweifel, das war ein Falkenschrei gewesen!
    Hufschlag ertönte von links, aus der Richtung, aus der auch sie selbst gekommen waren. Nach wenigen Atemzügen preschten drei weitere Pferde heran, mit Männern in ähnlichem Rüstzeug. Alle drei waren jünger als der erste und

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