Herrin der Lüge
könne. »Ich hatte Angst, vorhin«, sagte sie leise.
»Ich auch«, gestand er, viel zu überrumpelt, um sich eine Antwort zu überlegen, die sie trösten würde. Vorsichtig hob er seine Hand und strich ihr über das Haar, das sie im Nacken noch immer zum Zopf geflochten trug. Wunsch und Widerstreben hielten sich fast die Waage, aber die eine Schale neigte sich gefährlich.
Sie rührte sich eine Weile lang nicht, doch dann sah sie abrupt zu ihm auf. »Ich will keinen Fehler machen, Faun. Aber vielleicht tue ich das gerade.« Sie zögerte. »Zwing mich nicht noch einmal zu gehen.«
»Ich …«, begann er.
»Weil ich«, sagte sie, »beim nächsten Mal tatsächlich gehe. Und, ich glaube, das willst du nicht.« Damit stellte sie sich auf die Zehenspitzen und presste ihm einen Kuss auf die Lippen, so schnell, dass er einen Augenblick später nicht sicher war, ob er sich die Berührung nicht nur eingebildet hatte.
Sie löste sich von ihm und huschte zwischen den Bäumen davon.
»Wo willst du hin?«, fragte er heiser.
»Deine Sachen holen.« In der Dunkelheit klang es, als lachte sie. »Wir müssen weiter.«
Tiessas Tanz
In der folgenden Nacht wälzte Faun sich unruhig auf einem Bett aus aromatischen Gräsern und Kräutern. Er redete sich ein, es läge am Duft der Pflanzen, dass er keinen Schlaf fand. Immer wieder blickte er hinüber zu Tiessa, die zusammengerollt zwischen ihm und der Feuerstelle lag.
Am Abend hatten sie Holz aufgeschichtet, aber schließlich doch nicht gewagt, es zu entzünden. Jetzt lagen die Äste und Zweige unversehrt übereinander, vielleicht für den nächsten Wanderer, der am Fuß des porösen Findlings Rast machte. Sie hatten sich weiter von der Straße entfernt als in den Nächten zuvor, aus Sorge, die Ritter könnten erneut auftauchen. Wenn die Geschichte stimmte, die Tiessa ihm erzählt hatte, dann hatte sie die Börse von dem Mann mit der Augenklappe gestohlen, in einem Gasthof im Norden der Grafschaft Lerch. »Wer hätte denn ahnen können, dass sie mir wegen ein paar Goldmünzen so weit folgen?«, hatte sie mit Unschuldsmiene gefragt. Wer denn auch, ganz richtig. Faun fand es ebenso absonderlich wie sie, dass die Ritter nichts Besseres zu tun haben sollten, als einer Diebin über mehrere Tage zu folgen.
Es war ziemlich offensichtlich, dass Tiessas Geschichte an allen Ecken und Enden bröckelte und nicht einmal von Fauns gutem Willen zusammengehalten werden konnte. Zu heftig war ihre Reaktion auf die Männer gewesen.
Das Mädchen atmete ruhig, obgleich sich ihre Lippen bewegten. Faun konnte sehen, wie sich eine ihrer Fäuste in die Decke klammerte. Ungeduldig wartete er auf die Nacht, in der sie im Schlaf sprechen und ihre Geheimnisse offenbaren würde. Aber wahrscheinlich träumte sie sogar mit Berechnung.
Ärger stieg in ihm auf. Gestern war er in die offensichtlichste aller Fallen gestolpert und hatte es doch seither nicht geschafft, sich gänzlich daraus zu befreien. Er konnte ihre Lippen noch immer auf den seinen spüren. Er war kein Narr, und er wusste sehr wohl, dass das Ganze Mittel zum Zweck gewesen sein mochte.
Sie spielt mit dir, und du weißt es.
Oder sie ist ehrlich und braucht deine Hilfe.
Er betrachtete das Auf und Ab ihres Atems, folgte dem verschlungenen Verlauf des Zopfs, der unter ihrer Decke hervorschaute. Wenn sie ihn löste, musste ihr hellblondes Haar bis weit über die Taille reichen. Verwundert ertappte er sich bei der Vorstellung, wie sie dann aussähe.
Er gab sich einen Ruck. Reiß dich zusammen! So kann das nicht weitergehen!
Mit einem Stöhnen drehte er sich auf die andere Seite und starrte in die Dunkelheit. Der gewaltige Findling wölbte sich bedrohlich über ihnen, löchrig wie wurmstichiges Holz. Resigniert schob Faun die Decke zurück und setzte sich auf. Die Nacht war kalt, trotz der warmen Jahreszeit. Ein Feuer hätte ihnen beiden gut getan, aber die Gefahr, dass die vier Reiter sie bemerken könnten, erschien ihm selbst in der Nacht zu groß.
Der Gedanke an die Ritter führte ihn zu dem Gold in Tiessas Gürteltasche. Es war eine verlockende Vorstellung, einfach danach zu greifen und sich aus dem Staub zu machen. Ein Teil seiner Probleme wäre damit gelöst.
Ich muss wissen, ob ich dir trauen kann, hatte sie gesagt. Aber woher nahm sie die Arroganz, Vertrauen von ihm einzufordern, ohne auch nur ein Stück von sich selbst preiszugeben? Ganz bestimmt nicht durch einen flüchtigen Kuss.
Vorsichtig zog er die Beine unter der Decke hervor.
Weitere Kostenlose Bücher