Herrin der Lüge
Tiessa lag etwa zwei Schritt entfernt. Die Geldbörse trug sie links am Gürtel. Sie zeichnete sich unter der Decke ab, eine flache Delle an ihrer Hüfte. Er musste nur den Stoff zurückschlagen. Und was dann? Wie sollte er ihren Gürtel öffnen, ohne dass sie erwachte?
Es sei denn … der Dolch! Der Gedanke, ihr das Gold ausgerechnet mit jener Klinge vom Gürtel zu schneiden, die sie für ihn gekauft hatte, beschämte ihn beinahe ebenso sehr wie die Vorstellung des Diebstahls an sich. Aber er hatte sich auch schon früher geschämt, wenn er gestohlen hatte: Kleidung für seine kleineren Schwestern, Essen für die ganze Familie. Und doch war es richtig gewesen.
Er rutschte auf den Knien näher an Tiessa heran. Ihr Atem veränderte sich nicht, sie schlief tief und fest. Sie hat mich belogen, sagte er sich. Es ist nicht schlimm, wenn ich sie bestehle.
Vorsichtig streckte er die Hand aus, griff mit Daumen und Zeigefinger nach einem lockeren Deckenzipfel. Die grobe Wolle fühlte sich kratzig an. Ganz langsam zog er sie zurück.
Tiessa stöhnte im Schlaf. Ihre Lider flatterten, aber sie erwachte nicht.
Lange saß er vollkommen reglos da.
Sie macht dir nur Ärger! Lass sie zurück! Vielleicht kehrt sie dann um und wird wieder zu dem behüteten Töchterchen, das sie einmal war. Dein Diebstahl könnte den Ausschlag geben! Er wäre gut für sie!
Natürlich. Gut für sie.
Schweiß trat ihm auf die Stirn, als er die Decke erneut bewegte. Unendlich behutsam zog er sie zurück, Fingerbreit um Fingerbreit, bis er die Geldbörse vor sich sah. Sie war mit zwei Lederbändern an Tiessas Gürtel befestigt, ein schmuckloses, hellbraunes Ding, das mit drei Knöpfen aus Hörn verschlossen wurde.
Ohne ihr Gesicht aus den Augen zu lassen, zog er seinen Dolch aus der Scheide. Er hatte schon den einen oder anderen Geldbeutel gestohlen, meist in der unüberschaubaren Menschenmenge der Märkte, und auch da hatte er manchmal im Vorbeigehen eine Klinge benutzt. Ein kurzer, gezielter Schnitt, ohne dass der Besitzer es bemerkte, und die Börse lag in Fauns Hand.
Er hielt den Atem an und hob den Lederbeutel mit beiden Fingern von Tiessas Hüfte. Das Mädchen rührte sich nicht. Sie sah süß aus, wie sie so dalag, fand er.
Langsam führte er die Klinge an das eine Lederband.
Ein Teil von ihm appellierte ein letztes Mal an sein Gewissen. Tu’s nicht. Es ist falsch. Du kannst nicht –
Ein schrilles Kreischen ertönte.
Etwas raste mit rauschendem Schwingenschlag aus den Baumwipfeln herab und schlug messerscharfe Krallen in Fauns rechte Schulter. Mit einem Aufschrei riss er die Klinge zurück, ritzte das Lederband, und schlug mit der Hand und dem Messer um sich.
Tiessa öffnete die Augen, fuhr schlagartig hoch, prallte gegen ihn und sah zugleich, wie er von ihr fortgerissen wurde, auf den Rücken fiel und mit Händen und Füßen gegen etwas kämpfte, das jetzt in einem Wirbel aus Federn auf seiner Brust hockte.
Lodernder Schmerz raste durch seinen Oberkörper, als die Krallen in sein Fleisch hackten. Schwingen streiften sein Gesicht und schlugen über ihm zusammen. Ein stechender Gestank hüllte ihn ein. Der Schnabel des Falken leuchtete hornfarben über ihm, hieb auf seinen Handrücken herab, holte erneut aus –
Tiessa stieß ein hohes Krächzen aus.
Der zweite Schnabelschlag kam nicht, und plötzlich lösten sich auch die Krallen aus seiner Brust. Faun robbte in Panik auf Rücken und Ellbogen nach hinten, schlug noch immer um sich, obgleich doch der Vogel gar nicht mehr auf ihm saß.
Stattdessen thronte der Falke majestätisch auf Tiessas ausgestrecktem Arm, hatte die Flügel angelegt und ließ sein Gefieder von ihr streicheln wie ein verschmustes Katzenjunges.
Faun tastete nach seiner Schulter, dann nach seiner Brust. An seinen Händen klebte Blut, aber die Wunden waren nicht tief. Sein Wams hatte ein paar Risse, die Haut darunter Kratzer, die sich zu jenen gesellten, die er bei seiner Flucht durch den Wald davongetragen hatte; sie waren gerade erst halbwegs verheilt. Er würde schwerlich an diesen Verletzungen sterben, aber sie taten weh. Ein paar Augenblicke länger, und der Raubvogel hätte weit Schlimmeres angerichtet.
»Was … ist das für ein Vieh?«, stammelte er.
Tiessas Blick wanderte von ihm zu dem Falken auf ihrem Arm, dann zu Fauns Dolch, der neben ihrer Decke lag. Die Geldbörse hing nur noch an einem Band von ihrem Gürtel, das andere war durchgeschnitten.
»Sein Name ist Sturm. Ich hätte ihm einen anderen
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