Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Herrin der Lüge

Herrin der Lüge

Titel: Herrin der Lüge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
Lied, bis ihm allmählich die Luft ausging und die Finger schmerzten. Tiessas Tanz war ruhiger geworden, aber nicht weniger aufreizend. Doch auch sie ermüdete, was der Begeisterung des Publikums keinen Abbruch tat.
    Nach dem nächsten Lied gab sie ihm einen Wink, kam erschöpft zum Stehen und verbeugte sich in alle Richtungen. Applaus und Jubel brandeten zu neuen Höhen empor, aber Tiessa ließ sich zu keiner Zugabe bewegen. Faun schwante Übles – etwa dass der Wirt sie kurzerhand zwingen würde –, doch der Koloss schien ein Einsehen zu haben, reichte Tiessa eine Hand, half ihr beim Sprung vom Tisch und wandte sich dann mit einer kurzen Rede an die Menge. Die Vorführung sei beendet, sie könnten nun alle frisch gezapftes Bier bestellen, und wer damit nicht zufrieden wäre, solle sich gefälligst nach Hause scheren. Ein paar enttäuschte Zurufe ertönten, aber die meisten sanken zurück auf ihre Plätze an Tafeln und Tischen und waren bald wieder in ihre Gespräche, Streitereien und trunkenen Gesänge vertieft.
    Nicht wenige warfen verstohlene Blicke zu Tiessa herüber, die sich mit einem Ärmel den Schweiß von der Stirn wischte und ein wenig wacklig auf den Beinen beim Wirt und Faun stand.
    Im offenen Seitenfenster lehnte ein Knecht. Es war derselbe, den sie vorhin beim Pferdestall gesehen hatten. Angelockt vom Lärm hatte er den Tanz des Mädchens verfolgt und war nun in ein Gespräch mit einem kleinwüchsigen Mann verstrickt.
    Der Wirt zählte eine Hand voll Münzen ab, reichte sie jedoch nicht Faun – der gleich die Hand danach ausgestreckt hatte – sondern Tiessa. »Hier, Mädchen, hast dir dein Geld verdient. Euer Essen und das Bier gehen aufs Haus.« Damit ließ er den Rest der Münzen klimpernd in seiner Schürze verschwinden und stampfte durch die Menge davon.
    »Sieht aus, als könntest du die behalten.« Tiessa zeigte auf die Flöte in Fauns Hand. Ihre Brust hob und senkte sich schnell, ihre Stimme war atemlos. Aber sie brachte den Hauch eines Lächelns zustande.
    Faun achtete nicht auf das Ding in seinen Fingern. »Warum hast du das getan?«, fuhr er sie an.
    »Nicht jetzt.« Mit einem Nicken deutete sie in die Richtung des Fensters, durch das sich der Stallknecht noch immer hereinbeugte und angeregt unterhielt.
    »Nicht jetzt?«, flüsterte er aufgebracht. »Wir hätten –«
    »Der Stall ist unbewacht«, unterbrach sie ihn.
    Ihm wurde heiß und kalt zugleich. Er hätte es sich denken können.
    »Wenn wir schneller vorankommen wollen, brauchen wir Pferde«, sagte sie mit entwaffnender Logik.
    »Nach alldem hier willst du Pferde stehlen?«
    Sie nickte.
    »Ich sehe hier fünfzig Kerle, die dein Gesicht mit Sicherheit die nächsten paar Tage nicht aus dem Kopf kriegen werden!«
    Sie hörte schon gar nicht mehr hin, sondern wandte sich zum Ausgang. »Komm schon. Streiten können wir später noch.«
    Er warf in einer hilflosen Geste die Arme in die Luft und setzte sich in Bewegung, um sie in dem Gewühl nicht zu verlieren. Er konnte selbst kaum fassen, dass er sich noch immer Sorgen um sie machte. Im Gehen steckte er die Flöte unter seinen Gürtel und wünschte sich, sie wäre ein Schwert.
    Draußen blieben sie einen Moment lang stehen.
    »Los«, flüsterte Tiessa, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass ihnen niemand ins Freie folgte. »Wenn der Wirt merkt, dass der Pferdeknecht nicht auf seinem Posten ist, wird er ihn schleunigst dorthin zurückjagen.«
    »Das ist keine gute Idee.« Aber Faun folgte ihr trotzdem, fasziniert von ihrer Entschlusskraft, die für eine Weile sogar seine Wut auf sie in den Hintergrund dräng te.
    Der Platz an der Seite des Gasthofs lag silbern im Mondlicht. Das offene Fenster leuchtete zu ihrer Linken. Der breite Rücken des Stallknechts zeichnete sich als Silhouette gegen den Kerzenschein ab. Er hatte sich weit ins Innere gebeugt und gestikulierte mit den Armen.
    Sie wagten nicht, zum Stalltor hinüberzurennen, aus Furcht, der Mann könnte ihre Schritte hören. Stattdessen schlichen sie in einem Bogen am Waldrand entlang, möglichst weit von dem Mann entfernt, und näherten sich dann von der Seite her dem Tor. Es war nur durch eine Lederschlaufe gesichert, die vom einen Torflügel zum anderen gespannt und an einem Haken befestigt war. Faun löste sie und schob den einen Flügel vorsichtig nach innen. Das Holz scharrte über lose Steine und Dreck.
    An der Vorderseite des Gasthofs fiel Licht über die Straße, als dort die Tür geöffnet wurde und jemand ins Freie trat.

Weitere Kostenlose Bücher