Herrin der Lüge
wilden Aufschrei auf den Mann zu. Instinktiv ließ der Tiessas Bein los und drehte sich um, doch da wurde er schon von den Füßen gerissen. Ein Huf streifte seine Schulter, dann war Fauns Stute über ihn hinweg. Der Knecht rannte ein Stück hinter ihnen her, schwenkte die Fäuste und brüllte Beschimpfungen. Die beiden anderen Männer waren zurückgewichen, kamen nun aber angelaufen und beugten sich über ihre verletzten Gefährten.
Sie wussten nicht, wie viel Zeit ihnen blieb, ehe die Ritter die Verfolgung aufnehmen würden. Aber die Männer waren zu viert; und zwei ihrer Pferde standen noch immer im Stall.
»Keine Sorge!«, rief Tiessa über die Schulter. Ein Lächeln hatte sich über ihre Gesichtszüge gelegt. »Ich habe ihre Sattelgurte zerschnitten.«
Er konnte nur ihren Rücken anstarren und brachte kein Wort heraus.
Tiessa lachte glockenhell auf. »Sie werden’s spätestens in ein paar Minuten merken.«
Übermütig ließ sie ihren Schimmel noch schneller laufen. Sie preschten über ein Feld, fanden zur Straße zurück und bogen auf ihr in den Wald ein. »Das war leicht, oder?«, rief sie zu ihm hinüber. Ihre Augen blitzen fröhlich.
Tiessa verblüffte ihn immer wieder aufs Neue. Nicht nur, weil sie nicht die Wahrheit sagte und keine Macht der Welt ihr entlocken konnte, was sie nicht preisgeben wollte. Sondern weil sie sich von einem Moment auf den anderen scheinbar mühelos verwandeln konnte, fast wie Saga, wenn sie in ihre Rolle als Lügerin schlüpfte. Bodenlose Trauer wechselte sich bei Tiessa mit unbändiger Lebenslust ab, aus dem verschreckten Mädchen wurde eine geheimnisumwobene Flüchtende, aus der aufreizenden Tänzerin eine geübte Reiterin. Er hatte sie unterschätzt, die ganze Zeit über, und er fragte sich, was es noch über sie zu erfahren gab, das er zu diesem Zeitpunkt nicht einmal ahnen konnte.
Ausgelassen galoppierten sie nebeneinander durch die Nacht, die Straße entlang nach Süden, den unsichtbaren Bergen hinter den Wäldern entgegen.
Das erste Opfer
Saga hatte Todesangst. Als die Menge auf sie zutobte, eine wogende Masse aus geröteten Gesichtern, verfilztem Haar und schmutzigen Kleidern, fiel ihr nichts Besseres ein, als die Arme vors Gesicht zu ziehen und stocksteif stehen zu bleiben. Wohin hätte sie auch zurückweichen sollen? Die aufgebrachten Mädchen und Frauen drangen von allen Seiten auf sie ein, heulend und kreischend, mit hochgerissenen Armen und geweiteten Augen.
Gesänge ertönten, Lobpreisungen Gottes, der heiligen Maria und – ja, der Magdalena selbst. Saga war längst nicht mehr erstaunt darüber, dass an allen Orten, in die sie kam, Lieder zu ihren Ehren existierten, eigene Gebete, ganze Predigten nur in ihrem Namen gelesen wurden.
Und nun kamen all diese Frauen über sie und wollten ein Stück von ihr, einen Fetzen ihrer Kleidung, eine Strähne ihres Haars, eine kurze, und sei es noch so flüchtige Berührung ihres Fleisches.
Die sechs Söldner, die Zinder zu ihrem persönlichen Schutz abgestellt hatte, wurden von der lärmenden Menschenwoge überrollt und fortgerissen. Saga sah weitere Männer in dem Gedränge verschwinden, eins werden mit der tobenden Masse, und sie glaubte sogar Zinder selbst zu erkennen, der vom Rand des Platzes aus Befehle schrie, die in all dem Getöse niemanden erreichten.
Hunderte folgten ihr mittlerweile, mehr als Violante je vorausgesehen oder gar angestrebt hatte. Der Plan der Gräfin war es gewesen, mit so wenigen Anhängerinnen wie möglich – und doch gerade genug, um bei ihrer Ankunft in Mailand Eindruck zu schinden – über die Berge nach Italien zu ziehen. Aber nun folgte ihnen bereits ein Menschenstrom, der kaum noch zu kontrollieren war. Und wie die Dinge lagen, wollten sich hier und jetzt noch viele weitere dem Zug der Magdalena anschließen.
Vorausgesetzt, sie ließen etwas von ihr übrig.
Jetzt kletterten die Ersten an dem hölzernen Podest empor, das man für die Predigt errichtet hatte. Saga versuchte, ruhig zu bleiben, nahm die Arme vom Gesicht und richtete ihren Blick über die Masse hinweg auf die gewaltigen Berggipfel, die sich jenseits der Dächer dieser namenlosen Ortschaft erhoben. Majestätisch wuchsen sie in den Himmel, Giganten aus schroffem Granit, deren bewaldete Hänge aus dem Nebel dampften, weiter oben in kahles Aschgrau übergingen und sich hoch über der Welt bedrohlich und scharf gezahnt mit dem Himmel vereinten. Sie dachte, wenn sie sich nur auf die Gipfel konzentrierte, auf diese eherne
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