Herrin Der Stürme - 2
bewegungslos neben ihr. Gedankenschnell dahinziehend stand sie plötzlich auf der höchsten Spitze des TramontanaTurms und fragte sich, wie sie hierhergekommen war … Sie sah IanMikhail von Tramontana. Er trug das scharlachrote Gewand eines Bewahrers.
Er sagte sanft: »Donal ist also tot? Ich war sein Freund und Lehrer. Ich muß ihn in den Reichen des Jenseits aufsuchen, Renata. Wenn er plötzlich und durch äußere Gewalt gestorben ist, weiß er möglicherweise nicht, daß er tot ist. Sein Geist kann in der Nähe seines Körpers gefangen sein, und womöglich versucht er, wieder in ihn einzudringen. Ich war besorgt um ihn; aber ich wußte nicht, was passierte, bis ich dich sah, Cousine.«
In den nebelhaften Räumen der Oberwelt, wo körperliche Berührungen sich nur als Gedanken manifestieren konnten, tastete er sanft nach Renatas Hand.
»Wir teilen deinen Kummer, Renata. Wir haben ihn alle geliebt. Er hätte einer von uns werden sollen. Ich muß zu ihm.« Sie sah das schwache Flimmern der grauen Räume, das ankündigte, daß Ian-Mikhails Gedanken und seine Gegenwart sich von ihr entfernten. Sie klammerte sich mit einem verzweifelten Impuls, der die Oberwelt wie ein Schrei durchschnitt, an ihn.
»Was ist mit Dorilys? Was können wir für sie tun?«
»Ich weiß es nicht, Renata. Ihr Vater wollte sie uns nicht anvertrauen, und wir kennen sie nicht. Es ist bedauerlich. Wir hätten einen Weg finden können, ihr zu helfen, aber die Berichte über die Zuchtprogramme liegen in Hali und Arilinn. Vielleicht hat man dort einige Erfahrungen gemacht und kann dir einen Rat geben. Aber jetzt halte mich nicht länger auf, Schwester. Ich muß zu Donal.«
Renata sah zu, wie Ian-Mikhails Abbild zurückwich und sich entfernte. Er ging, um Donal zu suchen und sich zu vergewissern, daß er nicht in der Nähe seines nutzlosen Körpers weilte. Renata beneidete ihn. Sie wußte, daß der Kontakt zwischen den Toten und den Lebenden gefährlich und daher verboten war. Man durfte den Toten nicht erlauben, dem Kummer der Hinterbliebenen zu nahe zu sein. Und die Lebenden durften nicht in Bereiche gezogen werden, in denen sie nichts zu suchen halten. Ian-Mikhail, von Jugend an zur Sachlichkeit eines Bewahrers erzogen, konnte seinem Freund allerdings diesen Dienst erweisen, ohne allzu sehr in Mitleidenschaft gezogen zu werden.
Erschöpft und unsicher, nur an Donal und ihren Verlust denkend, wandte Renata sich Hali zu. Sie bemühte sich, ruhig zu werden, denn ihr war klar, daß zu große Erregung sie aus der Ebene schleudern konnte; doch ihre Gefühle drohten, sie zu übermannen. Sie begriff, daß sie völlig zerbrechen würde, wenn sie die quälenden Erinnerungen nicht vertrieb.
Aber das Grau der Oberwelt schien endlos. Als sie den Turm von Hali verschwommen in der Ferne auftauchen sah, schienen ihr die Glieder nicht mehr zu gehorchen. Dasselbe geschah mit ihren Gedanken, obwohl sie versuchte, sich auf den Turm zu konzentrieren. Sie bewegte sich durch eine graue, unbewohnte geistige Öde …
Dann schien es, als sähe sie weit in der Ferne eine vertraute Gestalt. Sie war jung und lachte, war aber zu weit weg, um sie zu erreichen … Donal! Donal, so fern von ihr! Sie begann, hinter der sich zurückziehenden Gestalt herzueilen, ließ einen Freudenschrei ertönen.
Donal! Donal, ich bin hier! Warte auf mich, Geliebter …
Aber er war zu weit entfernt. Er wandte sich nicht nach ihr um. Mit einem letzten Funken von Vernunft dachte sie: Nein! Es ist verboten. Er ist dorthin gegangen, wohin niemand ihm folgen kann.
Ich will nicht zu weit gehen. Aber ich muß ihn wiedersehen. Ich muß ihn sehen, nur dieses eine Mal und ihm den Abschiedsgruß sagen, um den man uns so grausam betrogen hat… nur dieses eine Mal, und dann nie wieder …
Sie eilte der zurückweichenden Gestalt nach. Ihre Gedanken schienen sie rasch durch das Grau der Oberwelt zu tragen. Als Renata sich umschaute, waren alle vertrauten Geländepunkte und der Ausblick auf den Hali-Turm verschwunden. Sie war allein in diesem Grau, in dem nichts existierte, als die kleine, zurückweichende Gestalt Donals am Horizont, die sich immer weiter von ihr entfernte …
Nein! Das ist Wahnsinn! Es ist verboten. Ich muß umkehren, ehe es zu spät ist. Seit ihrem ersten Jahr im Turm wußte sie, daß die Lebenden nicht in das Reich der Toten eindringen konnten, es nicht durften. Und sie wußte auch, warum. Aber jetzt war fast jede Vorsicht von ihr gewichen. Verzweifelt dachte sie: Ich muß ihn noch einmal
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