Herrin des Blutes - Thriller
sie etwa eine Viertelstunde vorher gefallen war. Sie setzte sich auf und starrte durch eines der Fenster auf den grauen Himmel und die vorbeiziehende Landschaft. Der Motor des Jeeps ratterte und hustete, und seine großen Reifen holperten durch unzählige Schlaglöcher, während sie dem kurvenreichen ländlichen Highway folgten. Weit und breit waren keine Häuser zu entdecken. Nur Bäume in endloser Folge, die Äste aufgrund der Jahreszeit blass und völlig kahl. Wie die ausgestreckten Arme eines Betenden reckten sie sich gen Himmel.
Der Jeep fuhr am Ende der bescheidenen Korsos. Allyson rutschte unruhig auf dem Sitz hin und her und spähte zwischen den Vordersitzen hindurch auf die Straße. Die anderen Fahrzeuge blieben dicht zusammen und trennten sich nie mehr als eine Wagenlänge voneinander. Der Transporter direkt vor ihnen war alt und olivgrün lackiert.
Genau wie ein Armeelaster, dachte Allyson und grinste.
Ihrer Meinung nach endeten die Ähnlichkeiten zwischen dieser wahnsinnigen, glorifizierten Pfadfindermission und einer ernst zu nehmenden militärischen Operation jedoch mit der Farbe des Lieferwagens. Zunächst einmal verfügten sie nicht über genügend Personal. Nach der Ermordung von Jack Paradise und der Gefangennahme von Jim hatten sich die stark strapazierten Bande innerhalb der ohnehin zerbrechlichen Camp-Whiskey-Gemeinde noch mehr gelockert und waren teilweise sogar gerissen. Dem Versuch, die Thronräuber des Drachenordens in die Flucht zu schlagen, hatte es sowohl an Zusammenhalt als auch an einer Strategie gefehlt, und er war auf spektakulär brutale Weise gestoppt worden. Der auf mysteriöse Weise eingeschüchterte pseudomilitärische Flügel des Camps hatte ungerührt zugesehen. Der Großteil der Bewohner ahnte, dass der Orden nicht zu besiegen war, woraufhin ein Massenexodus eingesetzt hatte. Allyson wäre am liebsten ebenfalls geflohen, aber sie brachte es nicht übers Herz, sich ohne Chad abzusetzen, der in einem der vorderen Fahrzeuge saß.
Nur ein kleiner harter Kern hatte sich gegen eine Flucht entschlossen. Die meisten von ihnen Männer, hauptsächlich Mitglieder der von Jack Paradise zusammengestellten paramilitärischen Einheit. Ein Großteil seiner Truppe war in jener Nacht an seiner Seite gestorben. Die wenigen Überlebenden befolgten nun die Befehle der Ordensleute, ohne sie im Geringsten infrage zu stellen. Chad stand irgendwie unter dem Einfluss der Asiatin, aber Allyson wurde das Gefühl nicht los, dass er so oder so geblieben wäre. Zumindest solange Jim noch lebte.
Beim Gedanken daran kochte Allysons Wut erneut in ihr hoch. Die Schlampe behandelte ihn, als wäre Chad ihr Eigentum oder ihr Schoßhündchen. Sie schleifte ihn mit sich, wohin sie auch ging, und schlug ihn, wann immer er es wagte, den Mund aufzumachen. Allyson schämte sich stellvertretend für Chad, wann immer sie dieses Verhalten beobachtete. Ein Teil von ihr starb jedes Mal innerlich, wenn es passierte und sie darüber nachdachte, wie erniedrigend diese Qualen erst für ihn sein mussten. Dass sie nicht das Geringste dagegen unternehmen konnte, verstärkte ihre Frustration noch.
Die Asiatin unterband jeglichen Kontakt zwischen ihnen. Anfangs hatte Allyson sich gefragt, warum Chads neue Wärterin ihr überhaupt erlaubt hatte, im Camp Whiskey zu bleiben. Schließlich wurde ihr jedoch klar, dass sich die Frau an Allysons Zwangslage in regelrecht sadistischer Weise aufgeilte und sie verhöhnte, indem sie offen zur Schau stellte, dass Chad nun ihr gehörte. Es war niederträchtig und grausam. Aber sie konnte der Angelegenheit auch etwas Positives abgewinnen. Nähe bedeutete, dass sich eines Tages womöglich eine Gelegenheit bieten würde, sie auszunutzen. Allyson hielt die Augen offen. Die Chance, gemeinsam mit Chad zu fliehen, würde sich irgendwann ergeben. Und sie hatte vor, sie zu nutzen.
Aber nun hatte sich das Blatt gewendet. Schon wieder.
Sie hatten den Befehl erhalten, in die finale Schlacht Gut gegen Böse zu ziehen. Allyson fand allerdings, dass Böse gegen Böse es treffender auf den Punkt brachte. Viele Hunderte Meilen später wartete Allyson noch immer auf die perfekte Gelegenheit. Die Begleitumstände machten eine Flucht noch komplizierter. Da sie irgendwann das Ziel erreichen würden, stand sie unter Zeitdruck. Außerdem war sie von ihrem Freund getrennt und von bewaffneten Feinden umzingelt.
Doch sie dachte nicht daran, die Flinte ins Korn zu werfen.
Sie trat gegen die Lehne des Vordersitzes.
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