Herrin des Blutes - Thriller
beides zu. Cool, weil es Dream und ihren Freundinnen ein Ausmaß an Freiheit ermöglichte, das nur wenigen Menschen je vergönnt war. Abgefuckt, weil Dream trotz ihrer Gabe in ihrem Inneren noch immer durch und durch menschlich und unglaublich zerbrechlich war.
Ellen aß wieder mit den Fingern, stopfte sich haufenweise Kartoffelpüree und Fleischbällchen in den Mund und richtete eine Riesensauerei an. Diesmal sah Marcy davon ab, ihr einen Klaps aufs Handgelenk zu verpassen. Sie versuchte, sich eine Zukunft vorzustellen, in der Ellen auf einer höheren kognitiven Ebene funktionierte. Einen Zustand, in dem sie zumindest annähernd der Schwester aus früheren Tagen glich. Sie stellte sich ernsthafte Unterhaltungen mit Ellen vor, in denen sie Erinnerungen an ihre gemeinsame Kindheit austauschten.
Ellens Zähne gruben sich in ihre eigenen Finger, die prompt zu bluten begannen. Das Mädchen kreischte unter Schmerzen auf und starrte mit dumpfer Ungläubigkeit auf die angenagten Gliedmaßen. Ein dünnes tiefrotes Rinnsal floss über den Handballen am Gelenk entlang in Richtung Unterarm. Es war nicht das erste Mal, dass Ellen 2 sich selbst verletzte. Marcy zweifelte allerdings, dass es das letzte Mal sein würde. Nun durfte sie der kleinen Idiotin die Hände säubern und die Wunden mit Desinfektionsmittel behandeln. In Gedanken trat sie eine weitere Zeitreise an und sah sich mit langen, entbehrungsreichen Jahren konfrontiert, in denen sie sich um diese bemitleidenswerte Kreatur kümmern musste. Düstere Verzweiflung kroch in ihr Herz.
Ellen streckte eine Hand in Marcys Richtung aus. Ihr Mund öffnete sich, und es kam eine einzige Silbe heraus: »Weh!«
Marcy klappte die Kinnlade herunter. Es war das erste verständliche Wort, das Ellen 2 von sich gegeben hatte, seit sie an jenem Morgen im nasskalten Motelzimmer zurück ins Dasein beschworen worden war. Ellen schien das Erstaunen ihrer Schwester fälschlicherweise als Tadel zu interpretieren und stieß ein weiteres Wort aus: »Tttttschuldiguuuung …«
Dann flennte sie wie ein Schoßhund und ihr Körper wurde von heftigen Schluchzern erfasst. Marcy sprang so blitzartig auf, dass ihr Stuhl umkippte, stürzte sich auf ihre Schwester und umarmte sie. Das Mädchen schmiegte sich eng an Marcy und klammerte sich mit ungeschickten Fingern an ihrer Kleidung fest, während ihr zweites Wort immer und immer wieder aus ihrem Mund sprudelte. Marcy streichelte über Ellens Haar und flüsterte ihr ins Ohr, um sie zu beruhigen.
»Pssst. Es wird alles gut. Ich verspreche es.«
Auch vor Marcys Augen legte sich ein feuchter Schleier, und sie betete dafür, dass es wahr werden würde. Sie erinnerte sich mit entsetzlicher Klarheit daran, wie sie sich unmittelbar nach Ellens Tod gefühlt hatte, an die nagende Trauer, die ihre Seele zu zerreißen drohte. Sie konnte sich nichts Schlimmeres vorstellen. Es wäre besser, tot zu sein, als sich noch einmal so fühlen zu müssen. Der Gedankengang führte sie zu ihren Freunden, die sie nach dem Zwischenfall in der Bar getötet hatte. Zu all den Leben, die sie ausgelöscht hatte, weil sie durchgedreht oder für einen Moment dem Wahnsinn verfallen war.
Selbst jetzt, Monate später, hatte sie keine vernünftige Erklärung für ihre Taten. Nur dieses vage Gefühl einer Bestimmung, die sie ihrem finsteren Schicksal entgegenführte. Eine verrückte Idee. Sie erinnerte sich noch lebhaft an jede Einzelheit dieses Tages, an das Zucken der Waffe in ihrer Hand, als sie den Abzug wiederholt durchdrückte. An den exakten Schaden, den jede einzelne Kugel an den Körpern ihrer Freunde angerichtet hatte. Und daran, wie die durchsiebten Leichen zu Boden gestürzt waren. Sie hatte nie den Gedanken zugelassen, welche Konsequenzen die Todesfälle für die Familien ihrer Opfer hatten. Aber nun grübelte sie darüber nach und spürte die dutzendfache Last der Trauer, die sie selbst nach Ellens Tod empfunden hatte, über sich hereinbrechen.
Das erste Schluchzen stieg aus ihrem tiefsten Inneren auf und zerriss ihr mit brutaler Kraft förmlich die Kehle. Ihm folgten noch viele weitere.
Die beiden Schwestern hielten einander umarmt und weinten für lange Zeit.
Kapitel 22
Giselle erwachte von Dunkelheit umgeben, genau wie an jedem Tag seit ungefähr zwei Wochen. Anfangs hatte sie noch versucht, die verstrichene Zeitspanne so exakt wie möglich festzuhalten. Es war ihr wichtig erschienen, auch wenn es dafür keinen offensichtlichen Grund gab. Immerhin bot es ihr eine
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