Herrmann, Elisabeth
raten.«
»Und ab und zu kriegen auch Leute, die nicht für den BND arbeiten, falsche
Papiere?«
»Nachempfunden«, verbesserte Kaiserley. Er schaufelte Currygemüse in sich
hinein und sprach mit vollem Mund weiter. »Ausländische Pässe stellt der BND
selbst her. Es gibt dafür eine eigene Werkstatt mit echten Künstlern. Die
würden niemals etwas fälschen. Denn das wäre ja illegal.«
»Also sind Sie einem Thomas Weingärtner nachempfunden? Das ist doch
absoluter Blödsinn.«
»Das ist die offizielle Sprachregelung.«
»Für was brauchen Sie einen falschen, sorry, nachempfundenen Ausweis?«
»Um einen Wagen anzumieten, beispielsweise. Um in einem Hotel abzusteigen,
ohne dass sofort eine Meldung an die entsprechenden Stellen geht.«
»Praktisch. Können Sie mir auch einen bestellen?«
Kaiserley wurde schlagartig ernst. Er legte die Gabel hin. »Ich könnte.
Aber nur, wenn Sie mich davon überzeugen, dass Sie wirklich einen brauchen. Und
wenn Sie sich darüber im Klaren sind, was eine falsche Identität bedeutet. Das
wissen nämlich die wenigsten. Legenden sind kein Spiel. Denken Sie an das
Zeugenschutzprogramm. An V-Leute. An Waffenhandel und internationalen
Terrorismus. Vor allem aber denken Sie daran, dass Agenten auch Familie haben.
Wenn eine Legende auffliegt, hat das nicht nur Folgen für den Betreffenden
selbst. Auch für sein gesamtes privates Umfeld.«
Judith wischte den Gedanken beiseite, dass es in ihrem Fall nicht viele
Betroffene geben würde. Sie und Kaiserley waren sich in einigem ähnlich, aber
sie gingen auf unterschiedliche Weise damit um. Judith hatte sich in ihrer
Isolation eingerichtet. Kaiserley nicht. Er lebte wie ein einsamer Wolf, weil
ihm irgendwann niemand mehr auf seiner Fährte folgen wollte, und er litt
darunter. Auch wenn er es nie zugeben würde.
»Und da gibt es immer noch Leute beim BND, die Ihnen helfen?«
»Sagen Sie das nicht so ungläubig. Ja. Die gibt es.«
»Woher wollen Sie wissen, dass die Legende von Thomas Weingärtner nicht auch
verraten wird?«
Kaiserley begann, die Alufolie in die Tüte zu packen. »Restrisiko. Schon
fertig?«
Er sah auf ihren halbleeren Teller. Judith nickte. Kaiserley verließ sich
ausgerechnet auf die Loyalität eines BND-Verbindungsreferenten. Und sie
verließ sich wohl oder übel auf Kaiserley. Ihr gefiel das nicht. Aber
Kaiserley konnte offenbar ohne Probleme mit seinem sogenannten Restrisiko
leben.
Er warf alles in die Plastiktüte und verknotete die Henkel.
»Gleich sechs«, sagte er. »Zeit für die Messe.«
*
Je näher sie Richtung Strand kamen, desto mehr versteckten sich die Häuser
hinter hohen Zäunen und umso größer wurden die Schilder der Sicherheitsfirmen
an den Toren, die sie bewachten. Fridhem, Västervang und Bellevue waren die
teuersten Viertel Malmös. Die Kirche lag in einer gut versteckten Einbahnstraße,
die Quirin ohne das Navigationsgerät nicht gefunden hätte.
Sie fuhren an Spaziergängern vorbei, die häufig von großen und offenbar
gut abgerichteten Hunden begleitet wurden. Nur auf den zweiten Blick fiel auf,
dass fast alle Anwesen mit Überwachungskameras ausgestattet waren. Die
hübschen schwedischen Holzzäune waren stählernen Gattern gewichen. Eine Stadt
rüstete sich.
Quirin glaubte nicht, dass die Kriminalitätsrate in Schweden so dramatisch
angestiegen war, um diese Abschottung zu rechtfertigen. Er bedauerte, dass
viele schöne Häuser nun den Blicken verborgen blieben. Er erinnerte sich an
einen Sommertag mit Sofie, der ihn bis hinunter in das alte Stadtzentrum von
Linhamn geführt hatte. Und an das Entzücken, das ein junges Herz beim Anblick
des Neuen, nie Gesehenen verspürte - sei es das Meer oder das Glück in den
Augen des anderen.
Er sah zu Judith. Sie saugte jedes Bild in sich auf. Der Öresund, der
manchmal zwischen den Wipfeln der Bäume durchblitzte. Die hohen Pfeiler der
Brücke hinüber nach Kopenhagen. Die fremden Worte auf den Schildern über den
Geschäften. Die Giebel der versteckten Jahrhundertwendehäuser, die nur ahnen
ließen, welche Pracht sich hinter den Mauern verbarg. Sie war so hungrig nach
Bildern, so neugierig auf alles, was hinter der nächsten Ecke lag. Quirin
spürte, wie alt sein Herz geworden war.
»Waren Sie schon mal in Schweden?«, fragte er.
»Nein.«
»Überhaupt schon mal im Ausland?«
»Brandenburg«, sagte sie und grinste.
Er verlangsamte die Fahrt, fuhr an der Kirche vorbei, fand keinen
Parkplatz und musste sich erneut in den Verkehr
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