Herrmann, Elisabeth
über das ganze Gesicht. Judith sah sich um. Außer ihr und Kaiserley war
niemand im Entree.
»Ist das lange her!«
»Sofie.«
Kaiserley breitete die Arme aus. Sie lief auf ihn zu, herzte und küsste
ihn, fuhr ihm durch die Haare und anschließend über den Bauch. Arm in Arm
wandten sie sich an Judith.
»Sofie Kirseberg. Ihr gehört dieses kleine Juwel. Das ist Judith Kepler.«
Instinktiv streckte Judith die Hand aus und bereute es augenblicklich.
Ihr entfuhr ein Schmerzenslaut. Sofie ließ sie sofort los und zeigte auf die
Verbände.
»Sie sind verletzt?«, fragte sie. Ihr Deutsch klang in Judiths Ohren
ungewohnt. »Brauchen Sie einen Arzt?«
»Nein, es geht schon, danke.«
Die beiden schienen sich gernzuhaben und lange zu kennen, so eng, wie sie
immer noch nebeneinanderstanden. Sofies braune Augen leuchteten. Sie war einen
Kopf kleiner als Kaiserley, hatte kinnlange, dunkle Locken und ein breites,
flächiges Gesicht. Ihre Wangen glühten. Vielleicht vor Freude, vielleicht aber
auch, weil sie gerade im Garten gearbeitet hatte, denn sie trug Gummistiefel,
Jeans und ein blaues T-Shirt, an dem Spuren von Erde klebten. Sie war schlank,
aber anders als Judith in einer weiblichen, zur Fülle neigenden Art.
Sofie löste sich aus Kaiserleys Umarmung und strich sich verlegen eine
Locke aus der Stirn.
»Du hättest anrufen sollen. Dann hätte ich euch das Zimmer fertiggemacht.«
Bei dem Wort »euch« blieb ihr Blick unbeabsichtigt etwas länger an Judith
haften. »Wie immer im ersten Stock?«
Kaiserley nickte. »Wie immer.«
Etwas an diesem sehr vertrauten Umgang störte Judith. Sie ärgerte sich,
dass sie eben noch über Sex im Hotel nachgedacht hatte, während Kaiserley und
Sofie diese Erfahrung offenbar schon seit einer Ewigkeit miteinander teilten.
»Ich nehme ein Einzelzimmer«, sagte sie schnell.
Vielleicht etwas zu schnell. Kaiserley runzelte die Stirn.
»Das ist keine gute Idee.« Er wandte sich an Sofie. »Wir bleiben
zusammen.«
Sofie nickte und schlüpfte hinter einen holzgeschnitzten Tresen.
Kaiserley holte einen Ausweis aus seiner Anzugtasche und reichte ihn ihr. Sofie
musterte ihn nur flüchtig und wollte ihn zurückgeben, aber Judith war
schneller und griff zu.
»Schönes Foto«, sagte sie und inspizierte die Plastikkarte. »Thomas
Weingärtner.«
Die Aufnahme war keine zwei Jahre alt. Der Ausweis war laminiert und mit
Hologramm versehen. Er hatte noch acht Jahre Gültigkeit und war in Berlin vom
Bezirksamt Pankow ausgestellt. Wie kam Kaiserley zu so einer perfekten,
aktuellen Fälschung? Sie reichte das Stück Plastik an ihn weiter. Er sagte
nichts. Sofie öffnete die Schublade und holte einen Schlüssel mit einem
schweren Messinganhänger heraus. »Wollt ihr Frühstück?«
Das »ihr« konnte sie sich sparen. Judith nahm den Schlüssel und ging auf
die Turmtreppe zu. »Nein danke«, sagte sie.
Die Holztreppe knarrte so laut, dass sie gehört hätte, wenn er ihr gefolgt
wäre.
Das Zimmer am Ende des Ganges war hübsch und zweckmäßig eingerichtet und
verfügte über ein großes Bad und zwei getrennt aufgestellte Einzelbetten. Es
hatte drei Fensterfronten. Nach Süden fiel der Blick auf das Kraftwerk, nach
Westen auf den Park und nach Norden auf den stark befahrenen Ystadvägen.
Es waren alte Fenster, und als Judith sich gleich auf das rechte Bett
warf, klang der Schwerlastverkehr, als ob sie direkt daneben im Straßengraben
liegen würde. Sie dachte an den holländischen LKW-Fahrer, an Martha Jonas und
an die Hunde von Sassnitz. Und an die Narben auf ihren Unterarmen, die manchmal
noch spannten und juckten und sie an ihre gescheiterte Suche erinnerten.
Sie boxte sich wütend das Kissen zurecht. Liebe. Vertrauen. Geborgenheit.
Wärme. Alles hohle Worte. Und Kaiserley war ein Meister darin, mit diesen
Begriffen zu spielen. Für einen kurzen Moment hatte sie auf dem Stortorget
tatsächlich das Gefühl gehabt, er würde sich für sie interessieren. Aber auch
ihm ging es mit seinen miesen Geschichten von verratenen Verrätern nur darum,
an diese Mikrofilme zu kommen. Und zu seiner Verflossenen in Malmö.
Sie wollte ihn hassen, doch sie war zu müde dafür. Sie hätte gerne dieses
Gefühl noch einmal gehabt, als Kaiserley von ihren Eltern erzählt hatte. Sie
wusste nicht, wie es hieß. Und weil sie keinen Namen dafür hatte, kam es auch
nicht wieder.
Sie spürte jeden einzelnen Muskel ihres Körpers und fühlte sich, als hätte
eine Lawine sie mitgerissen und unter sich begraben. Dann
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