Herrmann, Elisabeth
Schrecklichen, dem Schönen entgegen.
Milliarden Sonnen flogen an ihr vorbei, hinein in ein schwarzes Nichts.
Judith löste sich auf, schneller, als es jemals geschehen war. Sie ließ ihren
Körper zurück und setzte sich auf die Schwingen ihrer Seele wie auf einen
riesigen Adler, der sie hochhob und davontrug.
Jemand summte ein Lied.
»Morgen früh, wenn Gott will...«
Es duftete nach Rosen, Milch und Liebe.
»Schlaf jetzt. Schlaf ein.«
Sie war so müde. Ein See aus Honig hielt sie fest, wollte sie
hinunterziehen auf den goldenen Grund. Sie lag zusammengekrümmt wie ein
Embryo, Vertrauen und Glückseligkeit hüllten sie ein wie eine warme Decke. Sie
versuchte die Augen zu öffnen, aber sie hatte keine Augen mehr.
»Mama?«
Es wurde kühler.
»Mama!«
»Schschsch. Ganz ruhig. Wir sind bald da.«
Rot und Gold und Samt und Seide. Ein Vogel schrie, laut und heiser, als
wolle er sie warnen vor dem, was gleich geschehen würde. Der Mond goss Silber
auf klappernde Mühlen. Ta-klonk. Ta-klonk. Ta-klonk.
Jemand hob sie hoch. Sie wollte sich wehren, aber wie tat man das, wenn man
ein Nichts war? Nicht mehr als ein Lufthauch, kaum greifbarer als ein wirrer
Gedanke. Kein Sein, nur noch Bewusstsein.
»Alles wird gut.«
Sie hörte Angst. Der Honig wurde zäh, schien zu erstarren. Lenin beugte
sich über sie. Er sah sie an mit bronzenen Augen.
»Mama!«
Ein Mann ganz in Weiß schwebte wie Jesus vom Himmel. Mit weit
ausgestreckten Armen lächelte er sie an. Sie spürte, wie sie mit ihm davonflog
in die sternkalte Nacht. Sie wollte noch einen Blick hinunterwerfen auf die
Erde, aber sie konnte ja nicht sehen, obwohl alles so deutlich und klar war.
Eindeutig. Sie war das Paralleluniversum. Sie war Gott. Sie wusste genau, was
geschah. Der Mann hielt sie fest und flog mit ihr zu einer Raumkapsel, die
den Mond umkreiste.
»Ich bin Juri Gagarin«, sagte er. »Und das ist mein Monchichi.«
Ein braunes, pelziges Tier hüpfte ihnen entgegen.
»Du darfst es niemals verlieren. Hörst du? Niemals.«
Das Tier drehte sich einmal um sich selbst. Es schwebte im All, langsam
und schwerelos, und in seinem Bauch ging eine rotglühende Sonne auf.
Quirin saß in einer Küche, deren Gemütlichkeit der reine Hohn war. Auf
einer Platte lag ein Berg duftender Fleischklopse, frisch aus der Pfanne, aber
niemand griff zu. Volfram und Gillis saßen ihm gegenüber, aufrecht, steif, mit
versteinerten Gesichtern, in denen nur der geübte Beobachter die Todesangst
lesen konnte. Madita war ein hübsches, kräftiges Mädchen mit der typisch
schwedischen, tiefen Sommerbräune. Sie saß auf Gillis' Schoß und schmiegte sich
eng an die Großmutter.
Es war so still, dass das Brummen einer Fliege oben an der Küchenlampe
beinahe Ruhestörung war. Draußen heulte eine Alarmanlage. Quirin dachte kurz an
Judith, aber um dieses Auto zu knacken brauchte man mehr als bloße Fäuste. Es
war nur bis vierzig km/h gepanzert, entsprach also der untersten Sicherheitsklasse
und war bestimmt nichts für Moskauer Verhältnisse. Aber es hatte ein
GPS-Ortungssystem und eine Anti-Kidnapping-Funktion. Um das verriegelte Auto
von innen gewaltsam zu öffnen, musste man wissen, wo die Sprengknöpfe für die
Türschlösser versteckt waren.
Er wandte sich an Volfram. Er hatte ihn angeworben, als er ungefähr so alt
war wie Quirin jetzt. Nun war er schon Großvater. Kaiserley entgingen nicht
die silbernen Fäden im Haar des Pfarrers und die tiefen Falten in dessen
Gesicht, die nicht vom Alter allein rührten.
»Vielleicht sollten wir unter vier Augen reden?«
Der Pfarrer antwortete nicht. Madita klammerte sich noch fester an Gillis.
»Schickt wenigstens das Kind weg.«
Madita schüttelte den Kopf. Gillis küsste sie auf den Scheitel. »Geh nach
oben. Mama kommt bald von der Arbeit und holt dich ab.«
»Ich will nicht.«
»Madita?« Gillis fasste dem Mädchen unter das Kinn und hob ihren Kopf an.
»Tu, was ich dir sage. Dann erfährt Mama nichts von dem Kätzchen.«
Madita sprang von Gillis' Schoß und wieselte hinaus. Quirin sah ihr nach.
»Welches Kätzchen?«
»Ein Mann hat sie heute auf dem Nachhauseweg angesprochen. Russischer
Akzent. Angeblich sollte sie ihm helfen, es wieder einzufangen. Wir dachten
...« Gillis brach ab.
»Das hatte mit dem Anruf zu tun«, sagte Volfram. »Sie hat sich gemeldet
und uns gezwungen, einen Auftrag anzunehmen. «
Er schien erleichtert zu sein, mit jemandem darüber reden zu können.
»Sie?«, fragte Quirin. »Wer?
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