Herrmann, Elisabeth
abgeschnittene Porträts von
Passfotoautomaten.
Eine
Bildergeschichte über den Versuch des kleinen Glücks. Vater, Mutter, Kind. Eine
Familie. Nicht perfekt. Ziemlich erbärmlich sogar, wenn der Sohn auch noch die
tote Mutter beklaute. Aber Judith hatte eine Schwäche für Familien. Sie
steckte das Foto ein. Die Schachtel würde sowieso auf dem Müll landen, genau
wie alles andere aus dem Besitz der alten Frau, das sich nicht zu Geld machen
ließ.
»Klaust du
gerade?« Kai hatte den armen Poeten wieder aufgehängt und rückte ihn nun
gerade.
»Nicht
wirklich. Ich sammle Familienfotos.«
»Hast du
keine eigenen?«
»Nein.«
Kai musste
langsam das Gefühl haben, dass ihr Humor in eine Petrischale passte. Aber er
hatte an diesem Tag genug gelernt, um zu wissen, wann es besser war, den Mund
zu halten.
Die Hitze
schmeckte nach verbranntem Gummi. Als Judith die Fahrertür öffnete, hatte sie
das Gefühl, in einen Backofen zu steigen. Obwohl sie den Weg über die Autobahn
nahm, brauchte sie fast eine Stunde bis nach Neukölln. Der Feierabendverkehr
kollabierte in beide Richtungen. Je weiter südlich sie kam, desto öfter wurde
sie rechts auf der Standspur von Wagen überholt, die tiefergelegt waren,
schwarze Scheiben hatten und den Kofferraum voller Subwoofer. Sie wischte sich
den Schweiß von der Stirn und krempelte ihre langen Ärmel hoch.
Kai war
auf dem Beifahrersitz eingeschlafen. Sein Kopf lehnte an der Seitenscheibe, die
Erschöpfung hatte ihn derart übermannt, dass ihn selbst die Schlaglöcher nicht
aus dem Koma rissen. Sie riskierte einen zweiten Blick. Waren alle so müde,
wenn sie so jung waren? Sie versuchte sich daran zu erinnern, wie sie sich in
diesem Alter gefühlt hatte. Aber sie stieß nur auf eine lodernde Stichflamme
aus Selbsthass, diffuser Sehnsucht und deprimierender Mutlosigkeit. Sie sah die
Narben in ihrer Armbeuge und krempelte die Ärmel wieder herunter.
Kai
schreckte erst hoch, als sie Dombrowskis Fuhrpark erreichte und den Motor
abstellte. Sie deutete auf einen blatternarbigen Stahlcontainer, der links
neben dem Eingang vor sich hin rostete.
»Da kommt
der Müll rein. Dein Job.«
Sie zog
den Schlüssel ab und warf ihn ihm zu. Er war noch zu benommen, um zu reagieren,
und ließ ihn zu Boden fallen.
»Soll ich
Montag wiederkommen?«
»Willst
du?«
»Ich muss
erst mal nachdenken.«
Er suchte
den Schlüssel. Als er ihn gefunden hatte und wieder auftauchte, war sie schon
ausgestiegen. »He!«, rief er ihr hinterher.
Judith
drehte sich nicht um. Korrekt erledigt. Sie hob die Hand zu einem flüchtigen
Abschiedsgruß und ging über die staubtrockene Piste hinüber zu dem alten
Reifenlager, das ihr Chef mehr schlecht als recht zur Firmenzentrale umgebaut
hatte. In dem flachen Gebäude befanden sich die Spinde, Duschen,
Umkleidekabinen und der Pausenraum. Gleich links führte ein schmaler Flur in
die Büros. Judith ging zum Schwarzen Brett neben dem Eingang und erfasste mit
einem Blick, dass außer Matthäi, Josef und Frank mit kleiner Kolonne niemand
mehr im Einsatz war. Das sah nach einem ruhigen Wochenende aus. Sie würde
duschen, schätzungsweise fünf Liter Wasser trinken und sich dann auf den Weg in
ihre Wohnung machen, wo sie nur noch ihr Teleskop und den Schlafsack
zusammenpacken musste. Sie ging zu ihrem Spind und holte die Sporttasche
heraus, in der sich alles Nötige befand, um nach so einem Tag wieder Mensch zu
werden.
Nach der
Dusche trocknete sie sich ab und blieb kurz vor dem Spiegel im Waschraum
stehen. Sie ließ das Handtuch sinken, mit dem sie sich eben noch durch die
Haare gefahren war. Was sah jemand wie Kai in ihr? Eine Frau, die irgendwann
die Ausfahrt mit dem Wegweiser »Hübsch« verpasst hatte und in der Nähe von
»Unscheinbar« mit stotterndem Motor stehen geblieben war. Sie kam nur mühsam
voran auf dieser holperigen Buckelpiste, die man Leben nannte. Ein paarmal
hatte sie den Motor schon komplett abgewürgt, zuletzt hatte es verdammt nach Totalschaden
ausgesehen. Sie musste aufpassen. Jeden Tag und immer wieder. Nicht nachlässig
werden. Sich ständig vor Augen halten, dass die nächste Ausfahrt »Endstation«
heißen könnte. Dass die wirkliche Arbeit nichts mit einer Acht-Stunden-Schicht
zu tun hatte, sondern damit, wie man mit den anderen sechzehn klarkam. Zwei
Jahre hatte sie schon geschafft und war im Job in der Spur geblieben. Sie zwang
sich, ihrem eigenen Blick standzuhalten, solange es ging. Dann wandte sie sich
ab und schlüpfte in ihre Jeans
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