Herrmann, Elisabeth
Noch eine Stunde bis zum Beginn der Aufzeichnung.
Bis zum Moment der Wahrheit. Zum Triumph. Eine junge Aufnahmeleiterin,
erkennbar an Headset, Klemmbrett und schwarz gerandeter Brille, eilte durch die
Eingangshalle.
»Guten
Abend! Sie müssen Herr Kaiserley sein.« Sie trug einen straff zurückgekämmten
Pferdeschwanz und war gekleidet in dem uniformen Nerd-Chic der hippen Upper
Mitte. »Ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen. Ich bin Kirsten.«
Kirsten
ohne Nachnamen strahlte ihn an mit diesem hoffnungsvollen
Vielleicht-gehen-wir-nachher-noch-was-zusammentrinken-Blick, der einzig und
allein der Tatsache geschuldet war, dass sein Gesicht den Medien nicht
unbekannt war.
»Ich warte
noch auf jemanden.«
Kirsten
klopfte mit ihrem Stift auf den Ablaufplan. »Ich bringe Sie in Ihre Garderobe
und sage dem Pförtner Bescheid.«
»Ist
Juliane schon da?«
Ihr
Lächeln verlor um einige Grad an Wärme. Sie rückte die Brille zurecht und warf
einen Blick auf ihren Ablaufplan. »Frau Westerhoff ist in der Maske.«
Sie ging
voran. Quirin schnappte sich seinen Koffer und warf im Vorübergehen einen Blick
durch die weit geöffneten Studiotüren. Drei zu eins, die
politische Talkshow, wurde in Adlershof produziert und jeden Freitag am Ende
des Hauptabendprogramms ausgestrahlt, nach dem Krimi und vor den
Mitternachtsnews. Der Sendeplatz war gut gewählt, die Quoten hervorragend.
Themen von innenpolitischer Brisanz waren sein Spezialgebiet. Die Kamera
mag dich, hatte Juliane ihm eines Abends auf der obligatorischen
After-Show-Party erklärt.
Hitze,
Wein und zu viel Adrenalin, das nach der Sendung durch die Adern perlte wie
Champagner. Und ich dich auch.
Wie lange
kannten sie sich schon? Ein Vierteljahrhundert? Er hatte ihre Karriere aus den
Augenwinkeln verfolgt, und sie die seine. Zumindest so lange, wie es eine
Karriere für ihn gegeben hatte. Sein Absturz war aus großer Höhe mit ungeheurer
Wucht erfolgt. Sie war eine der wenigen, die sich danach nicht von ihm
abgewandt hatten. Hatte er ihr jemals dafür gedankt?
Heute
Abend, dachte er. Heute werden wir beide feiern. Die Seite eins. Die
Mega-Quote. Julianes leuchtende Augen. Ein paar Tage Frühling in der Seele.
Als Quirin
sie ein paar Wochen zuvor angerufen hatte und ihr - in aller gebotenen Vorsicht
- von seiner Quelle erzählt hatte, war sie Feuer und Flamme gewesen. Sie wollte
die Bombe am Ende der Sendung hochgehen lassen, fragte aber wie jede gute
Journalistin nach Beweisen.
»Wir
werden sie vorlegen.«
»Wer ist
wir?«
»Quellenschutz.
Tut mir leid.«
Ich weiß,
was damals passiert ist. Ich habe etwas in meinem Besitz, das Sie und
dreitausend andere interessieren dürfte. Stichwort Rosenholz. Interessiert?
Rosenholz.
Quirins Puls war nach oben geschnellt, als er die E-Mail gelesen hatte. Der
Absender hieß Aquavit und entpuppte sich bei ihrem
ersten und einzigen Treffen als eine Frau. Mitte dreißig, kräftig, mit einem
harten, nordisch klingenden Akzent.
Sie nannte
ihren Namen nicht. Das breitflächige, blasse Gesicht mit den schmalen Augen
unter einem herausgewachsenen Pony wirkte vollkommen unbeteiligt. Sie trug ein
weißes T-Shirt mit der Aufschrift Bommerlunder. Im
Hinterzimmer einer Kneipe in der Oranienburger Straße hatte sie auf ihn
gewartet, vor sich eine kleine Dose. Florena. Als er den Deckel öffnete und den
aufgerollten Mikrofilm sah, wusste er, dass sie nicht gelogen hatte.
»Sie haben
eine vollständige Kopie?«, hatte er gefragt und den Atem angehalten.
»Ja. Die
Klarnamen aller Auslandsagenten der DDR. Herausgefiltert aus Hunderttausenden
Karteikarten. Entstanden 1984 während der Verfilmung des Bestandes der HV A. Es
ist das Original. Nicht die kläglichen Reste, die euch KGB und CIA nach der
Wende überlassen haben.«
»Was
wollen Sie dafür? Ich habe kein Geld.«
»Aber Sie
haben Kontakte. Ich will den höchsten Preis, den ein deutsches Medium bereit
ist zu zahlen. Denn das hier«, sie klopfte auf ihre Handtasche, in der die Dose
wieder verschwunden war, »lässt endlich die richtigen Köpfe rollen.«
Sie
wartete auf seine Antwort. Sie wusste Bescheid. Über ihn, über Rosenholz, über
das, was damals passiert war.
»Woher?«,
hatte er gefragt. »Und warum erst jetzt?«
»Das hat
private Gründe. Ich bin nicht nur wegen Ihnen hier. Ich muss ein paar Dinge
erledigen, bevor Sie das hier an die große Glocke hängen. Wagen Sie nicht, mich
zu bescheißen oder mir zu folgen. Wer dieses Material fünfundzwanzig Jahre lang
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