Herrmann, Elisabeth
saß
auf Merzigs Bett. Die Pistole lag in ihrem Schoß. Sie hielt einen kleinen
Bilderrahmen in den Händen und schaute nicht auf, als er zu ihr kam und sich
neben sie setzte.
Das Foto zeigte vier Personen: Lindner, eine hübsche blonde Frau, ein
Kind, das wie ein Engel strahlte, und hinter ihnen Merzig, der stolz in die
Kamera sah. Die Ähnlichkeit zwischen ihm und Irene Sonnenberg war unverkennbar.
Über Judiths Gesicht liefen Tränen, aber sie blinzelte nicht und wischte sie
auch nicht fort.
»Er hat den Haftbefehl für seine eigene Tochter unterschrieben«, sagte
sie.
Kaiserley sah wieder auf das Foto. Er wollte den Arm heben und sie an sich
ziehen, doch er spürte, dass er sogar dazu zu müde war.
»Er hat... er war mein Großvater.«
Kaiserley schwieg. Er spürte, wie sie sich an ihn lehnte und den Kopf auf
seine Schulter sinken ließ. Sie hatte das schon einmal getan. Er versuchte,
sich nicht zu bewegen. Vielleicht blieb sie dann noch eine Weile so.
»Es tut mir leid«, flüsterte er. »Judith, es tut mir so entsetzlich
leid.«
Tränen tropften auf das Bild in ihrer Hand. »Ich hätte ihn umgebracht. Bei
Gott, das hätte ich. Und er wusste das.«
»Das hätte ich nicht zugelassen.«
Sie nahm den Kopf weg. Augenblicklich war auch die Wärme fort.
»Was du dir immer einbildest«, sagte sie. Aber es klang nicht mehr so hart
wie sonst. Es klang, als ob sie das gewusst hätte.
Judith wischte die Tränen weg, steckte das Foto ein und stand auf.
Dombrowskis Knarre schob sie in den Gürtel.
»Wie viel Zeit bleibt uns?«, fragte sie.
»Keine.«
»Bist du schwer verletzt?«
»Ein Durchschuss. Geht schon.«
Sie lief in die Küche und fand mit traumwandlerischer Sicherheit die
Küchenmesser genau dort, wo sie in achtundneunzig Prozent aller Haushalte
verstaut waren. Sie wählte ein kleines, scharfes Exemplar mit spitzer Klinge.
Unter der Spüle fand sie einen Eimer, Spülmittel und Lappen. Keine Handschuhe.
Sie suchte erst gar nicht danach. Sie verzichtete auf den Eimer und tränkte den
Lappen mit der unverdünnten Flüssigseife.
Kaiserley sah sie spöttisch an, als sie wieder zurückkehrte.
»Du willst hier doch keine Notoperation durchführen.«
Sie schüttelte den Kopf und trat an die gegenüberliegende
Schlafzimmerwand. Sie fand das Einschussloch und holte die Kugel aus der Wand.
Anschließend wischte sie ihre Fingerabdrücke mit dem Lappen weg. Das Gleiche
machte sie an der Tür. Sie kniete neben Espinoza und durchsuchte ihre
Jackentasche, bis sie das Handy gefunden hatte.
»Kommst du?«, fragte sie und stand eilig auf.
Kaiserley erhob sich mit einem unterdrückten Stöhnen und humpelte hinter
ihr her ins Wohnzimmer. Mit kritischem Blick musterte sie die Verwüstung.
»Hast du irgendwas hier angefasst?«
»Den Aschenbecher, glaube ich. Er ist noch drüben.«
Judith raste zurück ins Schlafzimmer. Sie fand das Ding und steckte es in
ihre Arbeitstasche, die Kaiserley ihr bereits entgegenhielt. Das Handy warf
sie gleich mit hinein.
»Sonst noch was? Denk nach!«
Kaiserley sah sich um.
»Die Couch.«
»Keine Fingerabdrücke auf Stoff. Faserreste vielleicht.« Sie musterte
Kaiserleys helle Hose.
»Die Scherben? Der Tisch?«, fragte er.
Sie sah auf den Boden. Dann ging sie in die Knie und musterte das Glas der
Ablage gegen das Licht.
»Nichts«, sagte sie und richtete sich wieder auf. »Sie werden deine
DNA-Spuren finden. Aber sie werden sie nicht zuordnen können. Weg hier.«
Sie warf den Lappen in die Spüle, nicht ohne vorher hastig die Schrank-
und Türgriffe abzuwischen. Mehr konnte sie nicht tun. Vielleicht rettete sie
das für ein paar Stunden. Dann verließen sie das Haus durch den Hintereingang.
Das Jaulen einer Polizeisirene näherte sich. Die trüben Straßenlampen
blendeten sie wie die Flutlichtanlage einer Sportarena.
»Hier entlang.« Kaiserley deutete auf den gepflasterten Gartenweg. Er
endete an einem Komposthaufen an der hinteren Grundstücksgrenze. Judith sah
sich hastig um. Irgendwo in der Nachbarschaft zog gerade jemand den Rollladen
hoch.
»Ich trage dich. Vielleicht glaubt die Spurensicherung an einen
übergewichtigen Riesen. Los!«
Er zog sie an sich und hob sie hoch. Judith klammerte sich fest. Sie
hörte, wie er mit zusammengebissenen Zähnen durch den Mund atmete. Er musste
starke Schmerzen haben. Trotzdem schlug er sich durch die Büsche und gelangte
auf die Rückseite des Nachbargrundstücks. Judith betete, dass kein Hund frei
herumlief. Sie versuchte, sich so
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