Herrmann, Elisabeth
See. Auf dem Boden lag ein leeres
Tablettenröhrchen. Es musste ihr gerade aus der Hand geglitten sein. Kellermann
ließ die Waffe sinken. Er begann zu ahnen, dass dies einer der Momente war, die
ein Leben für immer veränderten. Es gab nur zwei Dinge, die die Macht dazu
hatten: die Liebe und der Tod. Und Liebe hatte er nie besessen.
Judith kniff die Augen zusammen. Kaiserley lag immer noch auf ihr. Sie
konnte sich nicht rühren. Der Lauf von Dombrowskis Knarre lugte eine Winzigkeit
unter der Sofakante hervor. Aber solange Kaiserley der Meinung war, er müsste
sie mit Leib und Leben beschützen, war es ihr unmöglich, an sie heranzukommen.
»Wie schön«, sagte eine Frauenstimme. »Ein bisschen viel Wasser für eine
harmlose Teeparty.« Kaiserley wollte sich aufrichten.
»Ganz ruhig. Nichts überstürzen. Einer nach dem anderen, Hände über den
Kopf, Gesicht zur Wand.«
Er rollte von ihr herunter und stand auf. Sie sah noch einmal zu der
Pistole, aber die Frau war so nah, dass jede falsche Bewegung Judiths letzte
sein könnte. Als sie mühsam auf die Beine kam, schlug der silberblaue Fisch
noch einmal mit dem Schwanz. Dann blieb er reglos liegen. Nur sein Maul öffnete
sich, wieder und wieder.
Die Frau war vielleicht Ende vierzig und bemerkenswert schön. Ein
südländischer Typ mit schmalem, grazilem Knochenbau, aber durchtrainiert bis
in die letzte Faser ihres perfekten Körpers. Sie trug einen dunklen,
sportlichen Anzug und schwarze Lederhandschuhe. Ihre braunen Augen blickten
erstaunlich ruhig in die Runde - dafür, dass sie eine klobige Waffe mit Schalldämpfer
hielt und dabei abwechselnd auf Judith und Kaiserley zielte.
»Quirin«, sagte sie.
Judith zog scharf die Luft ein. Natürlich. Wo immer es auf dieser Welt so
richtig dreckig zuging, kannte man sich. »Sie sind ...?«
»Warrant Officer Angelina Espinoza, Central Intelligence Agency.« Als sie
in Judiths verständnisloses Gesicht sah, setzte sie hinzu: »CIA. Im richtigen
Leben, falls es so etwas jemals gegeben hat, hieß ich Gretchen. Gretchen
Lindbergh.«
Sie sprach den Namen amerikanisch aus, er klang wie Grätschen.
»Du hast nicht nur für die CIA gearbeitet«, sagte Kaiserley.
»Hände hoch!« Sie zielte auf Kaiserley, der ihrem Befehl augenblicklich
nachkam. »KGB, FSB, MfS ... ich arbeite für den, der mich bezahlt. Und im
Moment auf eigene Rechnung.«
Sie schritt um die Couch herum und trat so nahe an Judith heran, dass sie
sich beinahe berührten.
»Wo sind die Mikrofilme?«
Judith spuckte ihr ins Gesicht. Espinoza holte aus, und Judith duckte
sich nicht rechtzeitig. Der Schlag erwischte sie am Hinterkopf. Sie stürzte auf
die Knie und sah aus den Augenwinkeln, wie Kaiserley sich auf die Frau werfen
wollte. Der Schuss klang wie ein knallender Champagnerkorken. Kaiserley stieß
einen Schrei aus und brach zusammen. Seine Hände pressten sich auf den linken
Oberschenkel. Ungläubig starrte er auf den roten, dunklen Fleck, der sich in
rasender Geschwindigkeit ausbreitete.
»Keine Angst, ich habe das Schießen nicht verlernt.« Espinoza zielte auf
Kaiserleys Kopf. »Ich arbeite heute nur im Stil von Sekretärinnen. Die treffen
meistens nicht beim ersten Mal.«
»Wer ist es?«, stöhnte Kaiserley. »Wem schiebst du das alles in die
Schuhe?«
Espinoza holte ein Handy aus der Tasche, zeigte es triumphierend und
steckte es wieder ein. Judith krümmte sich zusammen, weil sie glaubte, ihr Kopf
würde explodieren. Diese Frau hatte Praxis in der Art, wie sie andere
ausschalten konnte. Nun hatte sie es wieder auf Judith abgesehen. Sie holte mit
dem Fuß aus und trat sie in die Seite.
»Das ist doch wohl die unwichtigste aller Fragen. Oder?«
Judith fiel um und blieb liegen. Wieder sah sie den Lauf von Dombrowskis
Knarre. Merzig rührte sich nicht mehr. Seine blutunterlaufenen Augen starrten
zur Decke. Die Agentin beugte sich zu ihr herab.
»Schnee von gestern, würde mein deutscher Vater sagen.«
»Warum tun Sie das dann?«, stöhnte Judith.
»Die Vereinigten Staaten von Amerika haben eine etwas andere
Rechtsauffassung als ihr. Da kehrt man alles nicht so schnell unter den
Teppich. Mir blühen drei Mal fünfundzwanzig Jahre. Und dabei habe ich noch nicht
einmal mein eigenes Land verraten.«
»Du hast beide umgebracht. Lindner und Sonnenberg«, sagte Kaiserley. Seine
Stimme war vor Schmerz verzerrt.
Espinoza sprang auf. »Die Frau ist Stanz entwischt und direkt in die
Schusslinie der Grenzer gelaufen. Das war glatter Selbstmord.
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