Herrmann, Elisabeth
schon etwas anfangen können. Sein Spezialgebiet sind,
glaube ich, internationale Sicherheitsfirmen.«
Weckerle
verschränkte die Arme vor der Brust. Eigentlich hatte sie erwartet, dass er
einen großen Wagen fahren würde, und sich vorgenommen, ihn beim Einsteigen
abzufangen. Dass er die U-Bahn nahm, passte nicht zu ihm.
»Ich muss
Sie warnen«, sagte er. »Kaiserley ist nicht seriös. Was auch immer er Ihnen
erzählt hat, ich würde es mehrfach prüfen.«
»Das tue
ich gerade.«
Weckerles
Blick veränderte sich. Er schien sie zu röntgen, abzutasten, vielleicht in
Erwägung zu ziehen, dass sie sich nicht einfach wieder nach Hause schicken
ließ. Sie hielt seinem Blick stand.
»Was haben
Sie noch gefunden?«, fragte er. »Nichts.«
»Frau
Kepler, warum sind Sie nicht ehrlich zu mir?«
»Stellen
Sie sich die gleiche Frage, und Sie haben die Antwort. «
»Sie und
die Tote, kannten Sie sich?«
Judith
starrte auf den U-Bahn-Plan, der in jedem Wagen hing.
»Ich
könnte mir fast vorstellen, dass Sie sich kannten. Und Kaiserley ist das missing
link. Was wollten Sie von ihm? Das Gleiche wie Borg?«
Blitzartig
wendete sie den Kopf und schaute ihn misstrauisch an.
Er
lächelte milde. »Bringen Sie mir, was Sie haben, bitte. Bringen Sie es mir,
und keinem anderen.«
»Und wenn
nicht?«
Er stand
auf. Nächste Station Kochstraße/Checkpoint Charlie. Sie folgte ihm bis zur
Tür. Er hielt sich an einer Haltestange fest und wartete darauf, dass der Zug
zum Stehen kam.
»Wir leben
in einem freien Land. Sie haben die Wahl. Niemand zwingt Sie zu etwas.«
»Und wenn
nicht?«, wiederholte sie.
Die
Druckluft zischte, als die Türen sich öffneten. Weckerle ließ den Arm fallen
und wollte ihr die Hand zum Abschied reichen, aber Judith ignorierte es. Mit
einem Schulterzucken wandte er sich ab und trat hinaus auf den Bahnsteig.
»Bitte
einsteigen und Türen schließen.«
Weckerle
hob den Kopf und witterte, als ob ein Luftzug ihn streifte.
»Dann wird
Sassnitz auch zu Ihrem Fluch.«
»Sassnitz?
- He!«
Die Türen
schlossen sich. Judith warf sich dagegen, rüttelte am Griff, schlug schließlich
mit der flachen Hand an die zerkratzte Scheibe, aber der Zug fuhr los.
Weckerle stieg die Treppen hinauf, und sie entfernte sich von ihm, immer
schneller, bis die Wände des Tunnels jeden Blick nach draußen verschluckten und
sie hineinzogen in das dunkle Netz unter den Straßen Berlins.
*
Kai lag
auf seinem Bett und glitt wie ein Surfer durch Erinnerungen und Stimmen,
unentschlossen, ob er wieder in den Urschlamm seiner Träume abtauchen oder doch
wenigstens den Versuch unternehmen sollte, wach zu werden. Sein Körper war
leicht, fast schwebend, irgendwie aufgelöst. Er verwandelte sich in ein
zartgelbes Meer aus wimmelnden, weißen Punkten, die sich von ihm ernährten.
Er fuhr
hoch und starrte mit weit aufgerissenen Augen auf sein Bett, bewegte die Beine,
die Füße, hob die Arme, roch an seinem T-Shirt, sprang auf und rannte ins Bad.
Er duschte über eine halbe Stunde lang. Das ganze Wochenende war er zu Hause
geblieben und nicht mit den anderen um die Blocks gezogen. Die reine Angst, sie
könnten diesen Geruch bemerken, der an ihm zu kleben schien wie zähes Pech.
Es war der
abgefahrenste Job, von dem er je etwas gehört hatte. Während er sich wieder und
wieder einseifte, dachte er daran, was er der Sachbearbeiterin im Jobcenter
erzählen würde und ob er sie verklagen sollte. Schmerzensgeld. Krankschreibung.
Trauma. Was er gesehen, gerochen und gefühlt hatte, ging weit über das hinaus,
was die zarte Psyche eines Einundzwanzigjährigen verkraften konnte. Warum
machte eine Frau wie Judith so etwas?
Weil ich
es kann. Und viele andere eben nicht.
Und er
hatte durchgehalten. Er hatte ein Wort der Anerkennung erwartet. Die
Aufforderung, wiederzukommen und weiterzumachen. Stattdessen hatte sie sich
noch nicht einmal verabschiedet. Als ob völlig klar wäre, dass er nach diesem
einen Tag die Schnauze voll hatte. Was bildete sie sich eigentlich ein? Er
trocknete sich ab und ging, das Handtuch um die Hüften geschlungen, in die
Küche. Im Abfalleimer suchte er nach dem Laufzettel, den ihm ein breiter Hüne
im blauen Kittel mit dem eingestickten Namen »Josef« auf der Brusttasche am
Freitag in die Hand gedrückt hatte. Sankt Gertrauden-Krankenhaus. 5.30 Uhr
Dienstbeginn, Treffpunkt Hofeinfahrt Dombrowski. 6 Uhr Abfahrt. 15 Uhr
Feierabend. Die waren wahnsinnig. Und das alles für sechs Euro Mindestlohn. Ein
Vollidiot,
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