Herrmann, Elisabeth
auf
einer Stufe mit der von Rheumadecken und Balkonpflanzen. Aber Judith blieb
irgendwie hängen. Rein kopfmäßig. Sie hatte eine Art, die einfach provozierte.
Sie erwartete nichts. Weder Pünktlichkeit noch Ordnung. Und sie hatte ihn
nicht rausgeschmissen.
Er stieg
aus und schlenderte zu der Einfahrt. Dahinter öffnete sich ein weiterer Hof,
auf dem einige grüne Lieferwagen mit weißer Aufschrift standen. Gerichtsmedizin. Ein zweites Schild. Sektionsbereich. Kai
brauchte einen Moment, um beide Begriffe miteinander zu verbinden und sich
auszumalen, was sie bedeuteten. Er stand im Hof eines Leichenschauhauses.
Judith war
ein Freak. Kai drehte sich auf dem Absatz um und ging zurück zum Wagen. Nicht
nur ihr Job, auch ihre Dates waren ihm einen Tick zu morbide.
»Gehört
der zu dir?«
Judith
warf einen Blick über Olaf Liepelts Schulter, was nicht einfach war, denn er
war einen Kopf größer als sie. Alles an ihm war etwas zu lang geraten. Arme,
Beine, Nase, Rumpf - dazu kam, dass er nicht stillstehen konnte und ständig auf
seinen Füßen vor- und wieder zurückwippte. Er trug die vorgeschriebene
Arbeitskleidung für den weniger geschützten Bereich, einen weißen Kittel. Die
rotblonden Haare hatte er so kurz geschoren, dass sie aussahen wie ein
Seehundfell. Da er zudem einen Schnauzer trug und es sich angewöhnt hatte,
seine Stirn in bedeutungsschwere Denkerfalten zu legen, auch wenn er gar nichts
Bedeutendes dachte, tendierte auch der Gesamteindruck in manchen Momenten
durchaus in Richtung Robbe. Er holte ein Päckchen Kaugummi aus der Kitteltasche
und bot Judith einen an. Sie lehnte ab und verfolgte gleichzeitig, wie Kai sich
ziemlich zügig vom Acker machte.
»Ein
Neuer. Absoluter Beginner. Entweder ist er am Kotzen oder am Schnüffeln. Ich
weiß noch nicht, was ich von ihm halten soll.«
»Schmeiß
ihn raus. Du bist doch sonst nicht so.«
»Eben.
Deshalb krieg ich ja kaum noch einen. Also?«
Liepelt
schenkte ihr einen Robbenblick, den man durchaus als Mitgefühl für bedrohte
Praktikanten deuten konnte. Er war schließlich selbst mal einer gewesen.
Sie wandte
sich vom Fenster ab und ging zu einer Hängeregistratur, die auf dem
Schreibtisch stand. Liepelt hatte sie in den Raum hinter dem Aufnahmebereich
mitgenommen, einem kleinen Büro unter der Leitung von Prof. Dr. Dr. Weihrich,
der in weniger als fünfzehn Minuten von seiner Vorlesung an der Charite
zurückkehren und wenig erfreut sein würde, seinen Obduktionshelfer und eine
Unbekannte mit den Fingern in der Ablage zu erwischen. Vom besetzten Parkplatz
ganz zu schweigen. Liepelt trat neben sie und fischte nach kurzer Suche einen
Klemmhefter heraus, den er mit zusammengekniffenen Augen einer genauen
Musterung unterzog.
»Christina
Borg. Da haben wir sie ja. Eingeliefert vor zwei Wochen, obduziert noch am
gleichen Abend und ...«
»Gib her.«
Judith
riss ihm die Akte beinahe aus der Hand. Sie schlug sie auf und blätterte durch
die Tatortfotos. Eine Frau in T-Shirt und Slip, unnatürlich verrenkt auf dem
Fußboden liegend. Ihr Gesicht, wachsbleich, mit einer rötlich braunen,
kreisrunden Wunde auf der Stirn. Der Mund war leicht geöffnet, die Züge
entspannt, die Augen geschlossen. Der Frieden nach dem Mord.
»Gib her!«
Sie drehte
sich von Liepelt weg und betrachtete die Obduktionsaufnahmen. Ihre Brust.
Schulter. Einschusslöcher. Detailaufnahmen. Laborbefunde.
Obduktionsergebnisse. Liepelt kam um den Schreibtisch herum und wollte ihr den
Hefter abnehmen. Sie wich ihm aus.
»Was
interessiert dich denn so an ihr?«
»Alles.«
»Warum?«
Sie sah
kurz hoch. »Ich war der Cleaner.«
»O
Scheiße«, murmelte Liepelt. »Du sollst dir solche Sachen nicht immer so zu
Herzen nehmen.«
Sie
schüttelte ärgerlich den Kopf und überflog das Obduktionsprotokoll.
»Judith,
wir haben keine Zeit!«
»Gab es
irgendwas Besonderes an ihr?«
»Sie ist
erschossen worden.«
»Sehr
witzig. Besondere Kennzeichen? Auffälligkeiten?«
»Anzeichen
von Misshandlung im Kindesalter, glaube ich. Zwei Knochenbrüche, nicht
behandelt und schlecht verheilt. Ist aber reine Spekulation.«
Nein.
Keine Spekulation. »Ich will sie sehen«, sagte sie
plötzlich.
»Wen?«
»Borg.«
»Bist du
verrückt?«
Doch
Judith war schon an der Tür. Die Fotos waren das Abbild einer Tat. Sie aber
wollte den Menschen sehen, die Frau, die Borg gewesen war und die als Kind das
gleiche Schicksal erlitten hatte wie sie. Das konnte keiner verstehen, der
nicht im Heim gewesen war: dass
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