Herrmann, Elisabeth
wer da mitmachte.
Aber
Judith war kein Vollidiot. Hielt ihn für einen Loser, der aus dem täglichen
Kampf mit dem Wecker noch nicht mal ein Unentschieden herausholen konnte. Kai
hatte etwas gegen die Vorstellung, dass sie recht haben könnte.
Eine
Stunde später, kurz vor zwölf, stand er am Hinterausgang des Krankenhauses.
Dort, wo sich alle fanden, die es ohne Zigarette nicht aushalten konnten. Er
musste nicht lange warten. Ein Pulk schnatternder Blaukittel, alles Frauen
unterschiedlichster Nationalitäten, kam durch die Drehtür und suchte sich ein
Plätzchen im Schatten. Die letzte, abseits und schweigsam, war Judith. Sie
checkte ihr Handy, steckte es aber, ohne jemanden anzurufen, wieder ein. Er
war gespannt auf ihr Gesicht, wenn er vor ihr auftauchen würde. Wenn sie ihn
abservieren wollte, dann sollte sie es ihm direkt ins Gesicht sagen. Kai hatte
genug Rausschmisse erlebt, um sie in zwei Arten einteilen zu können: die sanfte
Tour, mitfühlend, aber gleichzeitig auch um Verständnis heischend. Und die
wortkarge Nummer: Papiere schon im Ausgangsfach, hol sie dir, dann sparst du
zwei Tage Postweg und kannst heute noch zum Amt. Judith gehörte nicht zur
Ponyhoffraktion. Er wappnete sich mit Trotz und einer mühsam gezähmten Wut,
die er jedes Mal verspürte, wenn man ihm den Versager unterschieben wollte.
Gerade
wollte er auf sie zugehen, da bemerkte er, wie sie sich vorsichtig umsah. Die
Zigarette in der Hand, schlenderte sie unauffällig über die Zufahrt vor zur
Straße und eilte dann in schnellen Schritten zu ihrem Dombrowski-Kleinbus. Kai
sprintete hinterher und erreichte sie, als sie gerade die Tür aufschloss.
»Schon Feierabend?«
Wenn er
sie überrascht hatte, so ließ sie es sich nicht anmerken. Sie wandte sich ab
und öffnete die Fahrertür. »Oder Fahnenflucht?«
Sie stieg
ein. Er stellte sich so in die Tür, dass sie sie nicht schließen konnte.
Endlich bequemte sie sich, ihn wahrzunehmen. Er sah in ihre Augen und wusste,
dass etwas geschehen war. Seine Entschuldigung sprudelte heraus, bevor er sie
zurückhalten konnte.
»Ich bin
zu spät. Ich hab vier Stunden geduscht.«
»Nur vier
Stunden?«
Sie
lächelte schwach. Er hatte mit vielen Reaktionen gerechnet, aber nicht mit
dieser Defensive. Das enttäuschte, aber erleichterte ihn auch. Ihm fiel zum
ersten Mal auf, dass sie dunkelblaue Augen hatte. Und tiefe schwarze Schatten
darunter. Entweder hatte sie nicht geschlafen oder einen ausgewachsenen Kater.
Sie nahm einen letzten Zug, ließ die Zigarette fallen und trat sie, halb vom
Sitz rutschend, aus.
»Bist du
fertig damit, mich anzustarren?« In Sekundenschnelle war sie zum Angriff
übergegangen. »Steig ein. Ich hab nicht ewig Zeit.«
Die Fahrt
zum Hauptbahnhof dauerte keine fünfzehn Minuten. Sie sagten kein Wort. Gerade
als Kai sich fragte, ob sie jemanden abholen oder selber gleich in den
nächsten Zug springen wollte, ließ sie das gewaltige Gebäude rechts liegen und
fädelte sich in die Invalidenstraße ein.
»Wohin
geht es?«, unterbrach er das Schweigen. »Hast du einen neuen Auftrag?
Irgendwas, was sonst mal wieder keiner kann?«
Sie
wechselte mit einem halsbrecherischen Manöver die Spur und setzte an einer
unübersichtlichen Kreuzung unter dem empörten Gehupe der anderen Autofahrer
über den weißen Strich auf die andere Straßenseite über.
»Pgv«,
sagte sie. »Privat geht vor. Mein Date da drinnen hat mal genauso angefangen
wie du. Also mach dir um deine Karriere keinen Kopf. Tu einfach, was ich dir
sage. Bleib im Wagen. Wenn einer dumm fragt, fahr um den Block.«
Sie fuhr
bis zu einer Schranke und drückte auf den Knopf neben einer Gegensprechanlage.
Kai
musterte das graue Haus mit der verwaschenen Betonfassade. Berliner
Betrieb für zentrale gesundheitliche Aufgaben stand auf
einem Schild an der Wand. Die Schranke ging hoch. Judith fuhr auf einen Hof mit
mehreren reservierten Parkplätzen. Sie stellte sich auf den, der eigentlich
einem Prof. Dr. Dr. Weihrich gehörte, nickte ihm zu und stieg aus.
Kai
rutschte auf die Fahrerseite. Judith ging zu einem Nebengebäude und verschwand
in einer offenen Einfahrt. Kai sah ihr nach. Privat ging vor. Das sah aber
nicht nach einem Date aus. Ob eine Frau wie Judith so etwas überhaupt kannte?
Er konnte
ihr Alter schwer schätzen. Für Kai spielte sich das Miteinander der
Geschlechter hauptsächlich unterhalb der Gürtellinie ab. Frauen ab dreißig
kamen in seinem Weltbild nicht vor. Ihre Attraktivität bewegte sich für ihn
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