Herrmann, Elisabeth
man füreinander da war. Im Leben, und erst
recht in einem Leichenschauhaus.
»Ihr habt
sie doch noch. Zeig sie mir.«
Liepelt
hob die langen Arme in dem verzweifelten Versuch, sie von ihrem Vorhaben
abzubringen. Es half nichts. Judith schob die Akte in ihren Hosenbund.
»Du weißt,
das darf ich nicht. Störung der Totenruhe. Weihrich bringt mich um!«
»Weihrich
wird gar nichts erfahren. Und wennschon.« Sie grinste. »Dann kommst du eben
wieder zu mir.«
»Genau auf
die Art von Scheiße kann ich verzichten. Ich bin so blöde, dass ich dich
überhaupt hier hereingelassen habe. Gib die Akte her!«
»Später.
Hier entlang?«
Sie
öffnete die Tür, spähte in den Flur und verschwand. »Scheiße«, murmelte
Liepelt. »Scheiße.«
Quirin
Kaiserley stand vor dem Gebäude der Mordkommission in der Schöneberger
Keithstraße. Seine Chancen, etwas über den Fall Borg herauszufinden, tendierten
gegen null. Er wusste das. Er hatte das ganze Wochenende recherchiert und
nirgendwo auch nur einen Hinweis auf die Tote gefunden. Also musste er zunächst
herausfinden, ob diese Judith Kepler die Wahrheit gesagt hatte. Wenn ja, und
davon ging Quirin nach zwei halb durchwachten Nächten und dem Durchspielen
sämtlicher Alternativen aus, musste es bei der Polizei zumindest einen Vorgang
geben. Eine Aktennummer. Eine Adresse. Einen Tathergang. Das Anrufprotokoll,
die Adresse eines Nachbarn, die Feuerwehr, die Gerichtsmedizin.
Spurensicherung, Zeugenaussagen. Selbst wenn alles sofort von oben einkassiert
worden war, es musste jemanden geben, der diesen Fall zunächst bearbeitet hatte.
Borg war in einer Berliner Wohnung getötet worden. Selbst wenn BKA, BND und
Verfassungsschutz sich den Fall gegenseitig aus den Händen rissen, es musste
Zeugen geben. Wenn nicht für die Tat, dann für das, was danach geschehen war.
Die Frau
am Empfang war Mitte fünfzig und telefonierte lautstark mit jemandem, der eine
Waschmaschine reparieren sollte und das offenbar nicht konnte. Sie legte noch
nicht einmal den Hörer weg, als sie sich Quirin zuwandte und ein kleines
ovales Fenster in der Scheibe öffnete.
»Ja
bitte?«
»Es geht
um den Mordfall Christina Borg.«
»Ja und?«
»Ich
möchte gerne den zuständigen Sachbearbeiter sprechen.«
»Moment
bitte.« Sie seufzte mit kaum verborgenem Unwillen und sprach in den Hörer. »Nicht
die Pumpe. Die Pumpe kann es nicht sein. Ich ruf gleich noch mal an.«
Sie legte
auf.
»Wie war
der Name?«
»Borg.
Christina Borg.«
»Schon
verstanden. Und wer sind Sie?«
»Mein Name
ist Quirin Kaiserley.«
»Wie
bitte?«
Er
buchstabierte geduldig. »Und Sie wollen eine Anzeige machen?«
»Nein. Ich
will jemanden sprechen, der diesen Mord untersucht.«
»Also eine
Aussage.«
»Ich
will...«
Quirin
brach ab. Die Frau musterte ihn mit derselben Skepsis, die sie
Waschmaschineninstallateuren entgegenbrachte.
»Auskünfte
geben wir nicht. Da müssen Sie sich an die Öffentlichkeitsarbeit wenden.
Entweder Sie machen eine Aussage, oder Sie wollen Anzeige erstatten. Das wäre
dann das Referat...«
»Eine
Aussage«, unterbrach Quirin.
»Also
einen sachdienlichen Hinweis zu einem Mordfall? Welchem
Fall?«
»Borg.
Christina Borg.«
»Dann
nehmen Sie bitte einen Moment Platz.«
Die Dame
deutete auf eine hölzerne Sitzbank auf dem Gang und schloss das Fenster. Sie
ließ ihn nicht aus den Augen. Quirin setzte sich unter einen Aushang mit dem
Phantombild eines Bankräubers und beobachtete, wie die Frau den Telefonhörer
abhob und eine Nummer wählte. Er konnte nicht hören, was sie sprach. Aber er
sah, dass ihre Haltung plötzlich eine andere wurde. Sie nickte knapp, legte auf
und starrte ihn durch die Scheibe an, als säße er direkt unter seinem eigenen
Fahndungsplakat.
Liepelt
folgte Judith in seinem wiegenden Gang, die Schöße des Kittels wehten hinter
ihm her. Er holte sie am Ende des Flurs vor dem Aufnahmebereich ein.
»Weg da.
Hier landen die Neuzugänge.«
Judith
ließ sich von ihm durch die Gänge manövrieren, indem sie ihm einen halben
Schritt hinterherlief und den Kopf senkte, sobald ihnen jemand entgegenkam.
Zwei Menschen in Arbeitskitteln unterwegs zu einer kleinen, schnell zu beseitigenden
Katastrophe, wie sie des Öfteren vorkam. Es roch nach Desinfektionsmittel und
Sonne. Und nach Liepelts Rasierwasser, das er sich literweise in den Hemdkragen
schütten musste.
»Jetzt hab
ich aber was gut.« Sie erreichten eine schwere Tür aus matt poliertem
Edelstahl. Liepelt sah sich um.
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