Herrmann, Elisabeth
starrte einen Augenblick hoch in die sternklare Nacht.
»Warum zertrümmert jemand einen Grabstein?«, fragte der kleine Mann. Der
Kegel seiner Lampe erfasste ein hübsch bepflanztes Grab mit einer glänzenden Einfassung
aus schwarzem Marmor. »Das ist doch krank. Bin ich froh, dass es kein jüdischer
war. Was glauben Sie, was da los gewesen wäre. Der Staatsschutz und alles so
was. Wir haben hier schon genug Ärger mit den jungen Leuten.«
»Ja«, pflichtete Quirin ihm bei. »Wann ist das passiert?«
»So gegen neun, kurz vor Toresschluss. Sie kam rein mit Augen wie
Wagenrädern, mit einem Schmiedehammer oder so was. Der Lüttich ist schlecht
geworden. Die Frau hat Kreislauf, die musste sogar ins Krankenhaus.«
»Wurde sie bedroht?«
»Nein, der Schreck. Zerkloppt einfach den Stein. Steht morgen bestimmt in
der Zeitung.«
»Nur den Stein?«, fragte Quirin. Ihm kam ein aberwitziger Gedanke. Doch im
Fall Judith Kepler war nichts abwegig genug. »Oder ist sie auch in die Erde?
Hat sie vielleicht etwas gesucht?«
Der Wächter nahm neben ihm Platz.
»Nein. Sie hat nur gewütet. Nach einer Viertelstunde kam endlich die
Polizei und hat sie festgenommen. Da war schon nichts mehr übrig. Es ist mir
ein Rätsel.«
»Die Frau war Judith Kepler. Kennen Sie sie?«
Der Mann schaltete die Lampe aus. Die Dunkelheit war so tief, dass Quirin
die Augen schloss und keinen Unterschied bemerkte. Er hörte, wie sein
Sitznachbar atmete. Ein leises, pfeifendes Geräusch.
»Nein«, sagte der Mann. »Das wusste ich nicht.«
Das Schweigen, das folgte, dauerte lange.
»Judith«, sagte er schließlich. »Die kleine Judith.«
Judith verließ die Telefonzelle. Das Terminal hatte sich geleert, überall
standen aufgerissene Kartons mit Bierdosen und halbvolle Schnapsflaschen. Sie
griff sich zwei Dosen, die noch intakt waren und die die ehemaligen Eigentümer
wohl nicht mehr geschafft hatten. Auf dem Weg zu den Rampen riss sie eine auf
und trank sie noch im Laufen aus.
LKW, PKW und Wohnmobile reihten sich in langen Schlangen vor der Zufahrt
auf. Hochsaison. Judith schlenderte die Reihen entlang, als ob sie auf der
Suche nach ihrem Wagen wäre. In wenigen Minuten würden sich die Schranken
heben. Links nach Litauen, rechts nach Schweden. Zwei riesige Schiffe lagen im
Hafen. Über die Rampen schob sich bereits der Güterverkehr, Stoßstange an
Stoßstange, um in den gewaltigen Laderäumen zu verschwinden. Die Rufe der
Hafenarbeiter mischten sich in das Dröhnen der Motoren. Blendendes Licht
erhellte jeden Winkel. Unmöglich, sich an den Kontrollen vorbeizuschmuggeln.
Christina Borgs Asche wurde an eine deutsche Kirche in Malmö geschickt.
Judith schlich nach rechts und stellte sich in den Schatten eines kleineren
holländischen Blumenlasters. Zwischendurch spähte sie immer wieder zu den
Wachposten hinüber. Sie hatte sich unter einer Dusche am Strand notdürftig
gesäubert, aber ohne Bürste und mit einem zerrissenen Kleid sah sie immer noch
aus wie eine Landstreicherin. Ihre Handflächen glühten. Sie hatte keine Papiere,
keine Schlüssel, kein Handy, kein Geld. Vielleicht war die Reise ja hier schon
zu Ende.
Sie setzte sich auf den Bordstein und riss die zweite Dose auf. Das Bier
war lauwarm, aber es löschte wenigstens den Durst. Die Polizisten hatten sie
zur Wache gebracht und ihr Handy und das Portemonnaie mit den Papieren
beschlagnahmt. Sie musste sich vor den Tresen auf einen Stuhl setzen, während
die Beamten flüsternd berieten, ob das Krankenhaus, die Irrenanstalt oder der
Staatsanwalt in Schwerin für sie zuständig sei. Nach zehn Minuten war Judith
leise aufgestanden und hatte die Wache verlassen. Niemand hatte sie bemerkt.
Wahrscheinlich diskutierten die beiden immer noch.
Leicht benebelt vom Alkohol, starrte sie auf die gewaltigen Reifen des
Lasters. Sie überlegte, unter ihn zu kriechen und sich so lange festzukrallen,
bis sie an Bord war. Ausgeschlossen. Dazu war sie nicht mehr in der Lage.
Sie versuchte nicht an das zu denken, was Martha Jonas ihr erzählt hatte.
Sie versuchte an gar nichts zu denken. Auch nicht daran, dass sie den
Transporter und die Unterlagen verloren hatte. Dombrowski würde ihr den Kopf
abreißen.
Scheiß auf Dombrowski. Sie trank die zweite Büchse leer, warf sie in den
Rinnstein und trat so lange darauf herum, bis sie platt war. Sie musste aufs
Schiff. Kein Geld. Keine Papiere. Keine Fahrkarte. Und die Bullen würden
bestimmt auch gerne noch ein Wörtchen mit ihr reden. Von weit her
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