Herrmann, Elisabeth
Uhr ein entscheidender
Wettbewerbsvorteil.
Die Firma Schneider Pietät warb mit geschultem Personal und ganzseitigen
Anzeigen im Branchenbuch und im Internet. An der Hotline saßen Studenten, die
Schneider senior höchstpersönlich nach dem teilnahmsvollen Klang ihrer Stimme
und ihrer Kompetenz in Sachen Terminvereinbarung ausgesucht hatte. Nur in
absoluten Notfällen wurden nach 2.2 Uhr Bestatter aus den Federn geholt. Meistens reichte das geduldige
Zuhören und die Frage, wann die Kollegen denn vorbeikommen durften. Es war ein
ruhiger Job. Und da neben dem Stundenlohn pro abgeschlossenen Auftrag auch
noch eine kleine Provision gezahlt wurde, ging Berthold Geißler recht motiviert
ans Telefon, als es kurz vor Morgengrauen, der Rushhour des Todes, im Büro der
Hauptniederlassung klingelte.
Er meldete sich mit der üblichen Begrüßung und achtete darauf, ab der
ersten Sekunde hilfsbereit und konstruktiv zu wirken. Am anderen Ende war eine
Frau, die ihren Namen nicht nannte, sondern gleich zur Sache kam.
»Es geht um Christina Borg. Kremierung mit anschließender Überführung nach
Schweden. An welche Adresse?«
»Ich, äh, weiß nicht«, antwortete er wahrheitsgemäß. »Ist die Verstorbene
eine Verwandte von Ihnen?«
»Ich habe eine Anfrage von der Berliner Senatsverwaltung für
Stadtentwicklung vorliegen. Friedhöfe, Grünanlagen und Krematorien. Ich
arbeite für die Firma Scan Ferries, Rostock. Wir haben geschultes Personal und
können, falls die Reise in Begleitung erfolgt, eine Kabine für diesen Zweck
zur Verfügung stellen. Wenn nicht, hätten wir spezielle Container im
Frachtraum. Ich soll einen Kostenvoranschlag ausarbeiten.«
»Jetzt?«
Die Frau am anderen Ende lachte leise. Es klang sympathisch.
»Wir fahren rund um die Uhr, also arbeiten wir auch rund um die Uhr. Ich
könnte den KV gleich fertigmachen. Dann geht die Zeit schneller rum. Was machen
Sie denn die ganze Nacht?«
Er sah auf die Uhr. Gleich vier. Eigentlich wartete er darauf, dass jemand
starb.
»Wenn wenig zu tun ist, lese ich.«
»Was denn?«
Geißler sah auf das Buch, das er zur Seite gelegt hatte. »Fraktionale
Infinitesimalrechnung.«
»Mathematik?«
»Physik. Hauptstudium.« Die Frau lachte wieder. Sie klang nett. »Wohin
fahren denn Ihre Fähren?«
»Petersburg, Klaipeda, Travemünde, Bornholm, die ganze Ostsee, querbeet.«
»Da würde ich gerne mal mitfahren.«
»Kein Problem. Schicken Sie mir eine Mail, und ich reserviere Ihnen eine
Außenkabine. Ich könnte da was mit Personalrabatt machen. Wir sind ja quasi
Kollegen heute Nacht.«
Er hörte eine Lautsprecherdurchsage.
»Das ist unser Schiff nach Rönne. Waren Sie schon einmal da?«
»Nein. Ich kenne nur das Mittelmeer.«
»Wie schade.« Sie klang, als würde sie das wirklich betrüben. Vielleicht
wurden die Damen dort am Counter ja genauso geschult. »Das sollten Sie ändern.
Bald. Wir haben wunderbares Wetter hier oben. Die See ist ruhig, der Himmel
blau, es ist einfach eine andere Art des Reisens. Ein bisschen so, wie es
früher einmal war. Man liefert sich aus. Den Elementen, einem Kapitän, der
Zeit.«
Berthold Geißler bekam Spaß an der Unterhaltung. Es redeten nicht viele
vom Wetter und der See, die nachts bei Schneider Pietät anriefen. Eine
unbekannte Frau mit einer warmen, lockenden Stimme. Er stellte sich vor, am
Hafen zu stehen und auf ein Schiff zu warten. Oder auf sie.
»Klingt gut«, sagte er. »Was kostet denn so was?«
»Weniger, als Sie denken. Melden Sie sich bei mir, wenn Sie mal hier oben
sind.«
»Das werde ich. Wie war Ihr Name?«
»Borg. Christina Borg.«
»Und Sie?«
Sie zögerte. Wenn sie ihm jetzt ihren Namen wiederholte, würde er ihr
schreiben.
»Wissen Sie was? Ich schreibe Ihnen. Versprochen. Wenn Sie mir mit meiner Anfrage helfen. Ich
weiß nicht, wann die Gerichtsmedizin die Leiche freigibt, aber Sie haben
bestimmt schon den Auftrag und einen Ansprechpartner.«
Geißler öffnete die Suchmaske im Computer und tippte den Namen ein.
»Die Urne geht an die Tyska Kerkan i Sverige in der Köpenhamnsvägen 23, Malmö.«
»Oh, Moment. Das muss ich mitschreiben.« Er wiederholte die Angaben.
»Danke«, sagte die Frau. »Sie haben mir sehr geholfen.« Sie legte auf.
»Hallo?« Er starrte auf den Hörer. »Hallo?«
Berthold googelte Scan Ferries. Er versuchte alle Schreibweisen, die ihm
einfielen, aber die Firma gab es nicht. Er rekapitulierte das Gespräch, doch
es blieb dabei, er hatte Informationen herausgegeben und sie
Weitere Kostenlose Bücher