Herrmann, Elisabeth
dunklen, maskierten
Gestalt zu entdecken, das ihm einen Anhaltspunkt geben könnte. Es waren
schreckliche Bilder gewesen.
An dem Abend hatte er nicht bemerkt, dass Eva zu ihm getreten war und
über seine Schulter schaute. Er hatte ihr einmal geschworen, das Böse nicht
ins Haus zu lassen. Nun trug er es bei sich, Tag für Tag, und es war zu seinem
Schatten geworden. Er lauschte. Nur das leise Ticken der Wanduhr störte die
Stille. Aber es war da. Es saß in den Schatten und wartete seit fünfundzwanzig
Jahren. Die Narren hatten es geweckt. Und er war der größte von ihnen, weil er
geglaubt hatte, es würde nicht mehr erwachen.
Er nahm einen tiefen Schluck Wodka.
Teetee hatte Judith Kepler über das interne Polizeikommunikationsnetz
gespidert. Er hatte eine Salve von Suchanfragen in das world wide
web geschossen, und ihr Name hatte sich
darin tatsächlich wie in einem Netz verfangen. Festnahme in Sassnitz wegen
Sachbeschädigung auf einem Friedhof. Kellermann las das Protokoll der
Ordnungskräfte, erst gelangweilt, dann zunehmend interessiert. Kepler hatte
einen Grabstein zerschlagen. Im Anschluss hatte sie sich widerstandslos
festnehmen und abführen lassen. Auf der Wache hatte man sie gebeten, Platz zu
nehmen und zu warten. Aber Kepler hatte offenbar nicht gewartet. Sie war
einfach aufgestanden und gegangen.
Braves Mädchen. Kellermann schloss das Protokoll. Teetee würde ihr auf den
Fersen bleiben.
Er öffnete noch einmal das Fenster mit Judiths Foto. Lange betrachtete er
die unscharfe, grobkörnige Aufnahme. Er hatte geglaubt, die Geister der
Vergangenheit kämen nie wieder. Doch Borg hatte sie geweckt. Und Kepler, Kepler
machte sie erst richtig wütend.
Ein Grab in Sassnitz. Sie kam der Sache näher. Er würde jeden ihrer
Schritte verfolgen. Sie würde ihn führen. Wenn noch etwas von damals übrig
geblieben war, dann war sie die Einzige, die es finden konnte.
Er schreckte hoch, weil ein Schatten über den Flur huschte. Evchen
schlüpfte ins Badezimmer, Licht fiel durch den schmalen Spalt unter der Tür.
Kellermann leerte sein Glas. Das Trinken hatte er sich nicht abgewöhnen können.
Aber Eva hatte ihn dazu gebracht, es zu reduzieren und sich besser einzuteilen.
Evchen. Er fühlte sich verpflichtet, mehr Dankbarkeit zu empfinden. Sie hatte
ihm im Lauf der Jahre so viel mehr gegeben als er ihr. Aber er wusste bis heute
nicht, warum, und er wagte nicht, danach zu fragen.
Er goss noch zwei Fingerbreit Wodka über die halb geschmolzenen
Eiswürfel, hob das Glas und ließ sie leise klirren. Er mochte dieses Geräusch.
Es klang nach früher, als man noch Zigarren rauchte und am Sonntagabend einer
Sekretärin im Keller des Kanzlerbungalows die Agenda der Lagebesprechung in
die Maschine diktierte, die wie durch Zauberhand bereits am Montagmorgen bei
Ulbricht und Honecker in Ostberlin auf dem Schreibtisch lag.
Es war so lange her. Es war eine andere Welt gewesen, geteilt in Nato und
Warschauer Pakt, und ein Krieg, den keiner gewinnen konnte. Er hatte immer
Leidenschaft für seinen Beruf empfunden. Doch auch sie war ihm im Laufe der
letzten Jahre abhandengekommen, genauso wie die klaren Feindbilder und Ziele.
Die Freiheit zu verteidigen war ein weit mühsameres und langweiligeres
Unterfangen, als sie zu erringen.
Manchmal holte ihn die Erinnerung an alte Zeiten ein. In Nächten wie
diesen, wenn er allein in einem Haus im Dunkeln saß, das eigentlich von zwei
Personen bewohnt wurde. Er trank und kostete die Kälte nach, die sich noch auf
seiner Zunge in warmes Feuer verwandelte. Er dachte an die Frau in dem blauen
Kittel, die seinen längst verloren geglaubten Jagdinstinkt wieder geweckt
hatte. Und an den Weg, der vor Judith Kepler lag. Sie würde weit zurückreisen
in die Vergangenheit. Zurück in einen Krieg, in dem jedes Mittel erlaubt war:
die Liebe und der Tod. Sie würde beides finden, denn in dieser einen Schlacht
von damals hatte es keine Gewinner gegeben, bis heute nicht, und bis in alle
Ewigkeit.
Im Flur ging die Lampe an. Eine Gestalt im weißen Nachthemd erschien in
der Tür, von hinten angestrahlt, so dass er die Silhouette ihrer Figur unter
dem dünnen Stoff erkennen konnte.
»Kommst du?«, fragte sie.
»Ja«, antwortete er.
Gestorben wird rund um die Uhr, in Berlin ungefähr dreißigtausend Mal im
Jahr. Davon leben, mehr oder weniger gut, rund zweihundertfünfzig
Bestattungsunternehmen. Da der Tod sich nicht an Geschäftszeiten hält, ist für
viele von ihnen die Erreichbarkeit rund um die
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