Herrmann, Elisabeth
tönte ein
Signal, dann schrillte eine Klingel. Wie auf Kommando warfen alle die Motoren
an. Der Blumenlaster setzte sich langsam, begleitet vom Zischen der Hydraulik,
in Bewegung, hielt aber nach einem halben Meter wieder an.
Die Beifahrertür ging auf. Ein Mann lehnte sich hinaus.
»You
want a trip?«
Judith stand auf. Sie taumelte.
Sie hätte das Bier nicht so schnell trinken dürfen. »Malmö?«, fragte sie.
Der Mann ließ seine Augen über ihre Figur wandern. Er war einer von der
Sorte, bei deren Anblick man die Straßenseite wechselte. Speckige Klamotten,
unruhiger Blick. Sie sah bestimmt nicht besser aus. Großartige Voraussetzungen
für eine Zufallsbekanntschaft.
»Yes.
Malmö.«
Die Bremse zischte. Judith fuhr zusammen. Der LKW rollte langsam weiter,
die Tür blieb offen. Sie sah sich um. Im Wohnmobil hinter ihr saß ein Ehepaar.
Die Frau hielt eine Thermoskanne in der einen Hand und einen Becher in der
anderen. Statt sich einzuschenken, starrte sie Judith an und machte eine Bemerkung
zu ihrem Mann. Ihr Mund verzog sich abfällig.
Der Fahrer zuckte mit den Schultern, beugte sich wieder nach rechts und
wollte die Tür schließen. Judith lief los.
»Wait!«
Sie hangelte sich gerade noch rechtzeitig auf den Beifahrersitz. Er
machte eine schnelle Handbewegung. »Go down.«
Judith duckte sich. Die Tür knallte zu. Der LKW ruckelte unter der
Schranke durch und fuhr an den Kontrollen vorbei über die Rampe zum Schiff.
Vorsichtig tastete Judith unter den Sitz und fand den Feuerlöscher. Sie löste
die Arretierung. Der Fahrer rangierte den LKW in den Frachtraum. Bodenbleche
schepperten. Die Luft war erfüllt von Abgasen und den Rufen der Mannschaft.
Schließlich kam der Wagen zum Stehen.
»Okay.
Come up.«
Judith kroch auf den Sitz. Rechts neben ihr fuhr das Wohnmobil mit dem
Ehepaar vorbei und parkte in derselben Reihe.
Andere Wagen folgten. Es würde dauern, bis alle auf dem Schiff waren. Der
Fahrer grinste sie an. Er hatte gelbe Zähne und ein Gesicht wie ein
Punchingball. Zum Reinschlagen. Er deutete hinter sich. Judith drehte sich um
und sah eine Liege mit zerknäulten, schmierigen Decken. »Time to
have some fun«, sagte er.
Er griff unter das Bettzeug und holte eine halbvolle Flasche Korn hervor.
*
Marianne Kepler war im August 1985 gestorben. Kurz nachdem in Sassnitz drei Menschen spurlos verschwunden
und zugleich in Rumänien tödlich verunglückt waren. Der Friedhof von Sassnitz
war das Ende des Zufalls. Hier wurde aus einzelnen Fäden plötzlich ein loses
Netz.
»Wer war Marianne Kepler?« Quirin deutete auf die Trümmer des Grabsteins.
Der kleine Mann seufzte und scharrte mit seinen Schuhsohlen über den
Boden. Sein Ärger war verflogen.
»Ich kannte sie kaum«, sagte er. »Sie war eine von den Frauen, die, na
ja...«
Er suchte nach Worten. »Sie arbeitete im Rügen Hotel. Der große Kasten
unten am Hafen. Den haben die Schweden in den siebziger Jahren gebaut. Für die
Transittouristen.«
»Westler.«
»Ja.«
Das war ein wichtiger Hinweis. Wer beruflich Westkontakte hatte, musste
meistens eine Verpflichtungserklärung unterschreiben. Marianne Kepler musste
beim MfS in Schwerin bekannt gewesen sein. Es musste eine Akte über sie geben.
Quirin hoffte, dass sie nicht den gleichen Weg genommen hatte wie die von
Lindner und seiner Familie.
»Als was? War sie Köchin? Oder Zimmermädchen?«
»Sie war, nun ja, eine Prostituierte. Sie trieb sich immer am Hafen herum
und hat sich dann von einem Freier ein Kind anhängen lassen. Ich glaube, die
Firma Horch und Guck hat sie angeworben und wohl auch Druck auf sie ausgeübt.
Sie fing an zu trinken. Ich habe sie ein paarmal gesehen, unten in der Bachstraße
hat sie gewohnt, in einem der Fischerhäuser, die sie jetzt renoviert haben.
Dann haben sie ihr das Kind weggenommen. Es kam ins Heim, und wenig später ist
die Mutter dann gestorben. Alkoholvergiftung. Schlaftabletten. Keiner weiß
es.«
»Das Kind kam vor ihrem Tod ins Heim?«
»Jou. Ein paar Wochen oder Monate, das weiß ich nicht mehr.«
»Und das Mädchen?«
»Judith? Das war eine merkwürdige Sache. Ich hab sie nie wiedergesehen.
Dabei ist man diesen Gören aus dem Gagarin ständig begegnet. Aber man denkt ja
nicht darüber nach. Vielleicht wurde die Kleine adoptiert. Oder man hat sie
woanders hingebracht. Im Gagarin jedenfalls war sie nicht lange.«
»Gagarin?«
»Juri Gagarin. Kosmonaut. Der erste Mensch im All. Nach ihm hat man das
Heim benannt.«
Quirin erinnerte
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