Herrmann, Elisabeth
sich an das Gesicht eines lachenden, jungen Mannes mit
weißem Helm.
Weil Borg
ein Heimkind war. Genau wie ich.
»Und die Judith, die Sie kannten, haben Sie nie wiedergesehen?«
»Nie wieder.«
Aber die Judith, die Quirin kannte, hatte zehn Jahre in Sassnitz gelebt.
Und sie kam als erwachsene Frau urplötzlich auf die Idee, den Grabstein ihrer
Mutter zu zertrümmern. Legte sich mit dem BND an. Stand, ehe sie sich's versah,
auf der Fahndungsliste. Hatte etwas in ihrem Besitz, das mit Christina Borg zu
tun hatte.
Etwas war geschehen, das Judith Kepler, Putzfrau und death
scene cleaner, nach so langer Zeit dazu
brachte, Amok zu laufen. Aber sie tat es nicht in Berlin. Sie machte sich auf
den Weg nach Sassnitz, auf genau den gleichen Weg, den drei Menschen
Jahrzehnte zuvor auch schon genommen hatten. Transit Berlin-Malmö.
»Wussten die Heimkinder eigentlich, was mit ihren Eltern war?«
»Ich kann Ihnen das nicht sagen. Aber man hat es ihnen wohl gerne unter
die Nase gerieben. Diente ja wohl auch der sozialistischen Erziehung.«
»Also ist davon auszugehen, dass Judith Kepler vom Beruf ihrer ... dass
sie wusste, wie Marianne Kepler ihr Geld verdient hat.«
»Das haben sie ihr wohl eingeschenkt. Wir hatten hier ja auch unseren
runden Tisch nach der Wende. Da kam einiges zur Sprache. Die ganze Heimleitung
wurde abgesetzt, und es kam eine Menge ans Licht. Leider nicht alles.«
»Was nicht?«
Der Friedhofswärter scharrte wieder mit den Füßen. »Haben viele
Schornsteine geraucht damals.«
»Verstehe.«
Quirins Sitznachbar seufzte. Die allerersten Vögel erwachten. Die
Morgendämmerung wurde heller. Von weit her hörte er ein Schiffshorn.
»Malmö«, sagte der kleine Mann. »4.45 Uhr. Man kann den Wecker danach stellen. Ich geh dann mal wieder. Sehen
Sie zu, dass Sie das Mädchen finden. Sie ist ja gemeingefährlich.«
»Frau Kepler hat vielleicht ein etwas anderes Verhältnis zum Tod. Trotzdem
war es nicht die Tat einer Wahnsinnigen.«
»Aber Sie haben doch gesagt, dass sie verrückt ist?«
»Das denken viele«, sagte Quirin. »Aber sie ist so normal wie Sie und
ich.«
»Und was sollte das dann mit dem Stein?«
Quirin stand auf. Er hätte dem Mann eine Antwort geben können. Aber
wenigstens er sollte nicht um den Schlaf gebracht werden. »Genau das werde ich
sie fragen. Haben Sie vielen Dank. Und gute Nacht.«
»Gute Nacht«, sagte der kleine Mann.
Judith tat nur so, als ob sie trank. Zwei Mal hatte sie schon versucht
auszusteigen. Zwei Mal hatte der Mann sie festgehalten und wieder auf den Sitz
gezwungen. Judith gab ihm die Flasche zurück. Sie hatte genug Zeit gewonnen.
Das Parkdeck war voll, die Passagiere schon längst oben auf den Decks. Die Motoren
vibrierten, die Fähre legte ab und würde wegen ihr nicht umdrehen, selbst wenn
man sie als blinden Passagier finden würde.
Der Fahrer glaubte sich mittlerweile am Ziel seiner Wünsche. Er setzte die
Flasche wieder an. Sie waren allein hier unten, und Judith wusste genau, wie
der Holländer sich den weiteren Verlauf der Überfahrt vorstellte. Es war ihr
geglückt, den Feuerlöscher in den Fußraum zu schieben.
Der Fahrer klopfte auf das dürftige Lager.
»Come on.«
»No.«
Blitzschnell bückte sie sich und griff nach dem Löscher. Aber sie hatte
die Verletzungen an ihren Händen unterschätzt. Sie konnte ihn nicht fest genug
halten, der Mann schlug ihn ihr aus der Hand. Im nächsten Moment riss er ihren
Kopf zurück. Sie roch seinen Atem und schlug wild um sich, aber der Mann war
kräftiger, als sie angenommen hatte. Sie schrie, er legte seine Hände um ihre
Kehle und drückte zu. Sie trat mit den Füßen gegen die Scheibe und erwischte
das Navigationsgerät, das mit einem hässlichen Knirschen zu Bruch ging. Er ließ
sie los, aber nicht, um sie gehenzulassen.
»Fucking
bitch!«
Der Schlag in ihr Gesicht raubte ihr fast die Besinnung. Sie würgte, holte
Luft und schrie. Der nächste Schlag traf ihr Kinn. Die Schnittwunde auf der
Wange platzte auf. Sie rollte sich zur Beifahrerseite, streckte die Hände nach
dem Türgriff aus, aber der Mann griff in ihre Haare und zog sie zurück. Die
Fahrertür öffnete sich. Noch bevor der Holländer begriff, was geschah, wurde
er gepackt und aus dem Führerhaus gezogen. Judith hörte dumpfe Faustschläge,
dann das wütende Heulen des Mannes und, nach einem letzten Hieb, der sich
anhörte wie ein Kinnhaken, nichts mehr.
Sie kroch über den Sitz nach links und starrte in die enge Gasse, die die
Fahrzeuge
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