Herrmann, Elisabeth
nicht. Er
überlegte, seinen Chef zu informieren. Da er sich das Interesse dieser Frau an
einer Urne mit Asche nicht erklären konnte, gab er den Gedanken auf. Er griff
nach dem Buch. Bevor er sich wieder in die Riemannsche Tensorrechnung
vertiefte, dachte er noch, dass er sie wirklich gerne kennengelernt hätte.
Quirin Kaiserley bremste abrupt und fuhr ein paar Meter zurück, so lange,
bis die Bäume wieder die Sicht freigaben auf eine Kirche und den kleinen
Parkplatz. Er rieb sich über die Augen, weil er glaubte, die Müdigkeit würde
ihm einen Streich spielen. Aber dort oben stand ein Transporter, und wenn er
keine Halluzinationen hatte, war auf ihm unübersehbar der Schriftzug Dombrowski zu lesen.
Quirin sah sich um. Die Straßen waren leer, einige trübe Laternen brannten
und tauchten den Park in gespenstisches Licht. Fast zwei Stunden war er durch
die Stadt geirrt und hatte sich selbst verflucht. Judith Kepler würde wohl kaum
an einer Bushaltestelle sitzen und auf ihn warten. Und gerade als er aufgeben
wollte, hatte er den Transporter gesehen.
Im Osten leuchtete schon ein fahles Morgenrot. Er stellte den Wagen ab und
lief über den Rasen nach oben, bis er den Transporter erreicht hatte.
Natürlich war er abgeschlossen. Aber er hatte weder Siegel noch Parkkrallen,
also war er noch nicht als gestohlen gemeldet, und die Polizei hatte ihn auch
noch nicht mit Judith in Zusammenhang gebracht.
In seinen Ärger mischte sich leise Bewunderung. Ärger, weil Dombrowski ihn
angelogen hatte. Und Bewunderung, weil es ihr gelungen war, bis hierher zu
kommen und sogar noch weiter. Störung der Totenruhe, hatte Teetee gesagt. Was
auch immer das bedeuten mochte, der Transporter stand in der unmittelbaren Nähe
einer Kirche und eines Friedhofs.
Die Kirchentür war verschlossen, das Eisentor in der Ziegelsteinmauer
nicht. Quirin betrat die Anlage und umrundete zunächst die Kirche von allen
Seiten. Er fand nichts, was auf Sachbeschädigung oder Vandalismus hindeutete.
Er ärgerte sich, dass er seine Taschenlampe im Auto gelassen hatte, aber er
wollte nicht noch einmal zurück. Der Friedhof war alt, ohne exakte Wege, dem
hügeligen Berg angepasst, und bei Tag bot er bestimmt einen atemberaubenden
Blick auf die Ostsee. Quirin erinnerte sich daran, dass viele Städte am Meer
ihre Toten an Berghängen bestatteten. Vielleicht aus Furcht, das Meer könnte
sich die Toten holen.
Als er den Friedhof fast durchquert hatte, entdeckte er, dass ein
Urnengrab provisorisch abgesperrt war. Flatterband schützte die Stelle, und als
Quirin näher kam, trat er auf die Bruchstücke eines Grabsteines. Jemand hatte
ihn mit Wucht und Ausdauer zertrümmert. Quirin hob ein kleines Stück Granit auf
und betrachtete die Bruchkanten. Sie waren trocken und neu. Plötzlich hörte er
Schritte, aber es war schon zu spät.
»Was machen Sie hier?«
Licht blendete ihn, Quirin hob schützend die Hand vor die Augen.
»Wer sind Sie?« Eine dunkle Gestalt richtete den Strahl der Lampe direkt
auf sein Gesicht. »Hat denn keiner mehr Respekt? Ein Friedhof ist kein
Partykeller! Wir haben eine Hausordnung! Einlass von Sonnenauf- bis
Sonnenuntergang! Verschwinden Sie!«
Quirin ließ den Stein fallen. »Ich untersuche den Vorfall.«
»Ach.«
Der Lichtstrahl glitt zur Erde. Quirin nahm die Hand herunter. Vor ihm
stand ein kleiner, älterer Mann mit wild zerzausten, weißen Haaren. Unter
seinem Popelinemantel trug er einen Schlafanzug.
»Mitten in der Nacht. Ja? Im Himmel ist Jahrmarkt.«
»Hat sie das getan?«
»Diese Wahnsinnige? Hat die Welt noch nicht gesehen, so was. Und wer sind
Sie?«
»Mein Name ist Quirin Kaiserley. Ich komme aus Berlin. Die Frau ist
flüchtig. Wir müssen sie finden, bevor noch mehr passiert. «
»Dann macht sie das öfter?«
»Das hier ist neu.«
»Hm. Wohl aus der Irrenanstalt, was?«
Quirin ließ ihn in dem Glauben. Der Mann tastete mit dem Licht der
Taschenlampe den Steinhaufen ab. Einzelne Buchstaben waren an manchen Stellen
zu erkennen, mehr nicht.
»Wem gehörte das Grab?«
»Einer Marianne Kepler. Wäre in ein paar Jahren abgelaufen. Dann ist die
Liegezeit um. Hat sich nie einer gekümmert. Pacht hat die Gemeinde bezahlt.«
»Dann sind Sie der Friedhofswärter?«
Der kleine alte Mann nickte. Quirin wandte sich von dem Grab ab und setzte
sich gegenüber auf eine Bank. Der Wärter folgte ihm, wobei er immer wieder
stehen blieb und vertrocknete Blätter mit dem Fuß zur Seite schob. Quirin
lehnte sich zurück und
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