Herrmann, Elisabeth
war klar genug.
»Es fällt auch mir manchmal schwer«, erwiderte die Stimme. »Gerade in der
heutigen Zeit. Ich möchte Sie ungern länger aufhalten. Ihre Enkelin kommt
gleich aus der Schule. Madita heißt sie, glaube ich. Ein süßes Mädchen. Was
kocht Ihre Frau ihr denn heute?«
»Was ... woher ...«
Eine eiskalte Hand legte sich um Volframs Herz. Er legte den Hörer auf den
Tisch und hastete, so schnell es ging, in die Küche. Gillis stand am Herd und
briet kleine Frikadellen.
»Wo ist Madita?«, fragte er.
Gillis rüttelte die Pfanne über der Gasflamme. Eine Strähne ihres weißen
Haares hatte sich aus dem Knoten gelöst und fiel ihr ins Gesicht. Sie strich
sie hinters Ohr und sah auf die Wanduhr.
»Schon so spät? Sie müsste längst hier sein.«
Er achtete nicht auf ihren fragenden Blick, sondern stürzte zurück ins
Arbeitszimmer.
»Wo ist sie? Was habt ihr mit ihr gemacht?«
»Kleine Mädchen verlaufen sich manchmal. Machen Sie sich keine Sorgen.«
»Ihr gottloses Gelump!«
Er fuhr herum. Gillis war ihm gefolgt und stand in der offenen Tür. Er
gab ihr einen hastigen Wink, aber sie ging nicht. Nervös trocknete sie sich
die Hände an der Schürze ab.
»Herr Vonnegut, beruhigen Sie sich. Und überlegen Sie sich noch einmal
ganz genau, ob Sie weiterhin aktiv sein wollen oder nicht.«
»Lassen Sie meine Familie in Ruhe! Ich rufe die Polizei!«
»Nein!« Gillis kam auf ihn zu und riss ihm den Hörer aus der Hand. »Wer
sind Sie und was wollen Sie? Mein Mann ist krank. Er steht Ihnen nicht mehr zur
Verfügung.«
Volfram hob die Hände, aber sie wendete sich ab und hörte dem Anrufer zu.
»Das ist alles?«, fragte sie.
Er setzte sich und wartete. Herr, dachte er, gib, dass Madita nichts geschehen ist. Ich weiß, zu
was sie fähig sind. Ich war einer von ihnen. Ich habe anderen bitteres Leid
zugefügt. Aber sie ist doch ein Kind. Lass sie nicht für meine Fehler büßen.
Herr, nimm mich dafür. Aber schütze dieses junge Leben, das uns anvertraut
wurde.
Gillis' Stimme war wie ein Flüstern. Wie von weit her drangen die
Wortfetzen an sein Ohr. Ein Name, eine Adresse ... sie suchte nicht im
Computer, sondern in dem alten Rollverzeichnis, das wie vergessen im
Aktenschrank stand und seit Jahren nicht mehr gebraucht worden war. Er spürte,
wie schwach er geworden war und wie glücklich er sich all die Jahre schätzen
durfte, dass Gillis die Last mit ihm gemeinsam trug, dass sie handelte und
nicht er, aber es machte die Sache nicht leichter. Vielleicht war es doch ein
Fehler gewesen, dass er den Kontakt abgebrochen hatte. Kein Kontakt - kein
Schutz. Es gab niemanden mehr, der ihnen helfen würde.
Sie holte tief Luft. »Ich verbürge mich. Aber nur unter der Bedingung,
dass Sie meine Familie in Ruhe lassen. Für immer. Haben Sie das verstanden?
Hören Sie mich?«
Sie presste den Hörer ans Ohr, dann drückte sie mehrmals auf die Gabel.
Die Verbindung war unterbrochen. Langsam legte sie auf.
»Gillis ...«, begann er.
Da hörten sie, wie die Gartenpforte quietschte und sich die hastigen, fast
fliegenden Schritte eines Kindes näherten. »Gillis? Volfram? Seid ihr da?«
Seine Frau rannte so schnell hinaus, dass er ihr nur mit Mühe folgen
konnte. Madita flog in ihre Arme und wurde von oben bis unten abgeküsst.
»Wo warst du? Wo hast du so lange gesteckt?«
»Ich habe einem kleinen Kätzchen über die Straße geholfen.« Maditas Blick
wich ihnen aus.
Die eisige Kälte verschwand. Volfram atmete auf. Einen Moment sah er ein
anderes Kind vor sich, ein Mädchen mit dunklen Haaren und trotzigem Blick, das
vor langer Zeit auch auf der Schwelle dieses Hauses gestanden hatte. Damals
hatte er geglaubt zu helfen und hatte sich doch zu nichts anderem als einem
Werkzeug in der Hand der Gottlosen gemacht. Aus dem Mädchen war eine Frau
geworden, und diese Frau war fortgegangen und kehrte nun in einer Urne zurück.
Ob sie noch leben würde, wenn er anders gehandelt hätte? Er dachte an das, was
sie ihm anvertraut hatte, bevor sie aufgebrochen war zu ihrer Reise in den Tod.
Und daran, dass auch er nur ein Mensch war und sehr verwundbar. Ein Geheimnis
war kein Geheimnis, wenn man nicht bereit war, es mit seinem Leben zu
verteidigen. Volfram kannte nur drei Gründe auf dieser Welt, für etwas zu
sterben. Zwei davon hatte er direkt vor sich. Er schämte sich, weil er sich
plötzlich all den anderen gegenüber illoyal fühlte, die ihm vertraut hatten.
Am meisten aber schämte er sich vor Gott.
Gillis drückte
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