Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Herrndorf, Wolfgang - Sand

Herrndorf, Wolfgang - Sand

Titel: Herrndorf, Wolfgang - Sand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Troll Trollson
Vom Netzwerk:
versuchte ein paar Schritte gegen die Flussrichtung und wurde gestoßen, angerempelt und mitgerissen. Den Blazer, in dessen Innentasche er den Kugelschreiber gesteckt hatte, hielt er fest umklammert über dem Arm. Zur Seite hindrängend versuchte er, in kleinere Gassen auszuweichen, aber aus allen kleineren Gassen strömte ihm die Menge entgegen.
    Dicht über ihm öffnete sich ein Fenster, und eine zahnlose Alte keifte die Männer an. Sofort liefen sie hin, sie spuckten, sprangen am Fenster hoch und schlugen mit Fäusten und Stöcken nach ihr, bevor es der Frau gelang, die Fensterläden zuzuzerren.
    Der Strom der Hauptstraße vereinigte sich mit anderen Strömen aus Seitenstraßen und spülte alle zum Suq. Dort verlor sich die Richtung sofort. Das Zentrum der Bewegung schien erreicht und gleichzeitig leer. Man ging im Kreis herum und durcheinander. Formationen, die sich auf dem Weg gefunden hatten, lösten sich auf. Bei alldem herrschte ein sonderbarer Mangel an Begeisterung, und Carl fühlte sich an den Film erinnert, den er am Abend zuvor mit Helen im Fernsehen angeschaut hatte. Ein Tierfilm. Ein silbern blinkender Fischschwarm, der in einem Wasserblock steht und ruckt und in dessen Rucken sich von Sekunde zu Sekunde deutlicher die Ankunft der Haie mitteilt. Die Gesichter rund um ihn ausdruckslos vor Erwartung.
    Dahintreibend fragte Carl sich, wo die Kinder und Jugendlichen geblieben waren; er entdeckte sie auf den Dächern rund um den Suq, wo sie mit Pfeil und Bogen standen. Er selbst versuchte, nichts mehr gegen die Bewegung zu unternehmen. Nur nicht auffallen.
    Die Unruhe wurde fühlbarer, und plötzlich schien es, als habe es irgendwo eine Stockung gegeben, die sich rückwärts durch die Masse fortsetzte. Ein kurzer Stillstand, dann ein spitzer Schrei, und die Menge spritzte aus dem Zentrum fort, stürzte als Welle gegen Häuser und Mauern und spülte in die umliegenden Gassen. Carl fand sich eine Treppe am höchsten Gebäude des Suqs hinaufgedrückt und von Körpern einbetoniert.
    Von seiner erhöhten Position überblickte er den in der Mitte nun fast leeren Suq. Ein paar Knüppel und eine einsame Sandale waren dort zurückgeblieben, dazu ein schmächtiger Junge mit verdrehtem Bein und aufgerissenen Augen, der einsamste Mensch auf der Welt. Auf seine Ellenbogen gestützt kroch er über die Erde und drehte dabei panisch den Kopf hin und her – bis sein Blick an einer Seitenstraße hängenblieb. Ein Raunen ging durch die Menge. Zwischen den Häusern lugte etwas hervor, das wie eine riesige, dunkle Schnauze mit zitternden Schnurrhaaren aussah.
    «Ouz! Ouz! Ouz! Ouz!»
    Die Schnauze glitt zentimeterweise hervor. Dichtes, buschiges Fell, hängender Unterkiefer, zwei riesige Hauzähne im Maul. Kleine, bolzendicke Beinchen baumelten an den Seiten des Tiers. Es hatte mit nichts Ähnlichkeit, was Carl je gesehen hatte. Der dreieckige Kopf würde an einen Marder erinnert haben, wenn der Marder nicht die Größe eines Fünftonners gehabt hätte. Vereinzelte Schreie – und mit blutroten Knopfaugen schwenkte das Tier in Carls Richtung. Es schien ihn zu fixieren, eine halbe Sekunde lang. Dann schoss es vom Brüllen der Menge begleitet quer über den Suq in eine ferne Seitenstraße. Männer mit hocherhobenen Äxten folgten sofort. Nur wenige Augenblicke später tauchte das Tier aus einer anderen Straße wieder auf, lief erneut über den Suq und begann sich wie rasend im Kreis zu bewegen, eine immer größere Menschenmenge hinter sich herziehend. Das Entsetzen hatte sich in Tatendrang verwandelt, der Tatendrang in Wagemut und Blutrausch. Hinter dem Feld her stolperten die Älteren, die Langsameren, ein krückenschwingendes Kind und einige begeisterte Unbewaffnete. Sobald das Tier überraschende Wendungen machte, kreischten sie aufgeregt, und als es den Rückwärtsgang einlegte, kamen einige unter die Räder.
    Ein Mann mit nacktem Oberkörper stellte sich frontal in den Weg und wurde von den Hauzähnen zur Seite geschleudert. Andere schlugen Wunden in die Flanken des Monstrums und stürzten jubelnd davon, von einem Pfeilregen begleitet. Nach nur zwei Durchgängen durch den Suq war der Pelz des Ouz gespickt mit Stacheln. Die Bogenschützen warteten nicht mehr, bis das Ziel vorüberkam, sondern schossen noch lange, wenn es außer Reichweite war. Die Pfeile klirrten zu Boden, prasselten an gegenüberliegende Häuserwände oder blieben in den Rücken verwegener Angreifer stecken. In den Pausen versuchten die zu Boden

Weitere Kostenlose Bücher