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Herrndorf, Wolfgang - Sand

Herrndorf, Wolfgang - Sand

Titel: Herrndorf, Wolfgang - Sand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Troll Trollson
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immer. War das möglicherweise eine Frau aus der Kommune, die Helen ihm hinterhergeschickt hatte? Nein, so sah sie nicht aus mit ihrer gepflegten, adretten Kleidung. Außerdem schien es Carl, als habe er sie das Café aus der entgegengesetzten Richtung betreten sehen.
    In den letzten Tagen hatte er sich angewöhnt, auch ganz unbekannten Leuten zuzunicken. Er lächelte zurück. Sofort stand sie auf und kam an seinen Tisch.
    «Hallo», sagte sie laut und deutlich.
    «Hallo», sagte er.
    «Du siehst gut aus», sagte sie, als hätten sie einander lange nicht gesehen, und in ihm arbeitete es – sie kannte ihn! Auch wenn sie ihn offenbar nicht sehr gut kannte, denn bevor sie sich auf den freien Stuhl setzte, hatte sie erkennbar gezögert.
    Das Bedürfnis, sich dieser Frau sofort anzuvertrauen, war ungeheuer groß. Sie hatte ein biederes, reizloses Gesicht, und nichts sprach dafür, dass von ihr irgendeine Gefahr ausging … oder? Täuschte er sich? Wenn sie eine Bekannte Adil Bassirs wäre, eine Abgesandte vielleicht, die kam, ihn an das Ultimatum zu erinnern? Aber nein, nein, das war Unsinn. Ihr Gesicht war viel zu harmlos. Und wie hätte sie ihn auch finden sollen?
    Er beschloss, stumm bis zwanzig zu zählen und sich ihr dann zu offenbaren. Und wenn er sie reden ließe, würde er vielleicht auch von sich aus erschließen können (oder sie würde es ihm einfach sagen), wer er war… und wer sie war. Vielleicht ist sie meine Frau!, zuckte es durch sein Hirn. Aber eine Frau, deren Mann seit Tagen verschollen war, die man gerade vergewaltigt und deren Sohn man einen Finger abzuschneiden gedroht hatte, begrüßte ihren Mann anders. Nein, sie war eine gute Bekannte, entschied Carl für sich, möglicherweise seine Geliebte. Wobei sie ihm für die Geliebte eines Gewaltverbrechers auch wieder viel zu bieder und bürgerlich erschien und auch zu unattraktiv. Allein die kräuselige Dauerwelle. Außerdem stimmte etwas mit ihrem Blick nicht. Ihr Blick war so unstet wie seiner, und als er bei zwanzig angekommen war und die Kommunikation noch immer stockte, erwog er die Möglichkeit, dass auch sie ihr Gedächtnis verloren hatte. Sie lächelte, wurde wieder ernst, dann lächelte sie wieder. Dann wurde sie wieder ernst. Schließlich wurde sie rot.
    «Lass mich nicht alles allein machen», sagte sie.
    Oder sie war psychisch krank.
    «Ich freue mich, dich zu sehen», sagte er und bemühte sich, ruhig zu bleiben, während seine Füße unter dem Tisch unkontrolliert zuckten. Der Fluchtimpuls war fast so stark wie bei seinem Erwachen auf dem Dachboden der Scheune. Sollte er nicht besser auf seinen Körper hören? Die Frau, die seine Unruhe bemerkte, warf den Kopf in den Nacken und lachte künstlich.
    «Es gibt hier in der Nähe ein Hotel», sagte sie.
    Carl nickte.
    Da wurde sie wieder rot. Sie ist geisteskrank, dachte er, sie redet völlig zusammenhangloses Zeug … nein. Nein, es muss etwas anderes sein. Etwas so Schlichtes und Naheliegendes vermutlich, dass er nicht draufkam. Er entschied sich, das Spiel abzubrechen und sich ihr zu offenbaren. Für alles andere war es auch schon längst zu spät. Er beugte sich über den Tisch und flüsterte: «Ich weiß, es klingt verrückt. Aber ich kenne dich nicht.»
    Der Ausdruck auf ihrem Gesicht blieb absolut unverändert. Hatte sie ihn nicht verstanden?
    «Bist du verheiratet?», fragte sie.
    «Was?»
    «Ich weiß», sagte sie und fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare. «Ich weiß, dass das nicht normal ist. Das Hotel ist da.»
    Sie stand auf und ging, ohne sich noch einmal umzudrehen. Carl, der es gerade noch schaffte, mit zitternden Händen zwei Münzen auf den Tisch zu werfen, folgte ihr. Der Kellner fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.
    Der Hotelpförtner hob nicht einmal den Kopf und legte den Schlüssel mit der Nummer 7 auf den Tresen.
    Es ging eine schäbige Treppe hinauf und einen schäbigen Gang entlang in ein schäbiges Zimmer. Die Frau riss sich sofort die Bluse auf. So etwas hatte Carl noch nie gesehen. Eine nackte Brust … noch eine nackte Brust … er konnte sich zumindest nicht erinnern.
    Dagegen war er machtlos.
    «Sprich Arabisch mit mir», sagte die Frau, als sie nebeneinanderlagen. «Warum?»
    «Sprich zu mir, du wilder Mann!»
    «Was?»
    «Sprich Arabisch!»

    SIRENEN
     
    Menschenbilder, so was Grausliches. Also der Mensch interessiert mich nicht, wenn ich das so hart sagen darf.
    Luhmann
     
    «Was soll ich denn sagen?»
    «Egal.»
    «Mir fällt nichts ein»,

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