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Herrndorf, Wolfgang - Sand

Herrndorf, Wolfgang - Sand

Titel: Herrndorf, Wolfgang - Sand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Troll Trollson
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Getrampelten davonzukriechen. Niemand kümmerte sich um sie.
    Unweit der Treppe, auf der Carl stand, wurde das Ouz schließlich zur Strecke gebracht. Angriffswelle auf Angriffswelle brandete gegen den kaum noch zuckenden Fellhaufen, auch die Kleinsten und Schwächsten liefen nun herbei. Der riesige Kadaver sackte knirschend zur Seite und streckte einen Vorderfuß in die Luft wie einen Schornstein. Das hintere Bein lag abgerissen da, und in den eingedellten, aufgerissenen Flanken des Tieres wurden Holzlatten und Gestänge sichtbar. Unbeeindruckt prügelte die Menge weiter auf die Mechanik ein, und als das Hinterteil Feuer fing, entdeckte Carl vier in Ritualgewänder gekleidete Männer, die aus dem aufgeschlitzten Bauch des Fetischs flüchteten. Ihres eigentlichen Ziels beraubt, warf sich die wütende Menge nun auf die Priester und prügelte stellvertretend auf sie ein, bis es diesen gelang, im Gedränge ihre Gewänder abzuwerfen und unterzutauchen.
    Noch immer wie gelähmt stand Carl auf der Treppe und hielt seinen Blazer umklammert. Die Männer um ihn herum bewegten sich nicht, und minutenlang konnte er beobachten, wie die Reste des Ouz inmitten der Menge wanderten. Wie ein riesiges Molekül, das von kleineren, unsichtbaren Teilchen beschossen wird, ruckte es mit brennenden Flanken über den Platz. Tritte und Schläge trieben es umher, ein Halbstarker sprang dem Kadaver in den Nacken, sein Hemd fing sofort Feuer. Schien das brennende Ungetüm anfangs noch zufällig hierhin und dorthin zu rollen, verkündete spätestens das immer lauter, immer dringlicher und schriller werdende Geschrei, dass es ein Ziel gefunden hatte. Mit Knüppeln, Stangen und Fußstößen trieben die Männer den Feuerball in eine Seitengasse auf ein hölzernes Tor zu.
    Die Sicht auf das Geschehen dahinter war Carl versperrt, aber er meinte, zwischen den Rauchschwaden einen einzelnen Europäer auszumachen, der sich der heranrollenden Flammenkugel mit lächerlichen Kung-Fu-Sprüngen entgegenstellte. Was natürlich nichts half. Das Ouz wurde gegen das Tor gedrückt, das sofort aufbrach. Schnell waren Holzstapel und Müll im Innenhof der Kommune in Brand gesetzt.
    Zwei Frauen versuchten, mit einem sehr grünen, sehr komischen Gartenschlauch zu löschen. Eine andere in Jeans und Batik-T-Shirt schleppte Taschen, Teppiche und schwere Kisten zu einem großen Landrover. Helen war nirgends zu sehen. In kürzester Zeit fraßen sich die Flammen bis zum Hauptgebäude. Der Landrover nahm Anlauf, das Inferno zu durchbrechen, und blieb in den Trümmern stecken. Erneut hob triumphierendes Geschrei an und verstummte erst wieder, als der Wind umschlug und das Feuer auf die Nachbarhäuser übergriff. Zwei Straßenzüge brannten komplett nieder.
    Mit zitternden Knien war Carl währenddessen die sich leerende Treppe herabgekommen. Alles drängte zum Feuer hin, und er schob sich seitwärts an der Masse vorbei bis zu der kleinen Straßeneinmündung. Dort sah er erleichtert, dass unter den wenigen noch vor der Kommune parkenden Autos kein blauer Honda mehr stand.
    Doch seine Erleichterung währte nicht lang. Denn als er an sich hinuntersah, musste er feststellen, dass sein Blazer fort war. Der Arm, über dem er ihn die ganze Zeit getragen hatte, war noch angewinkelt, aber leer. Er rannte zuerst zur Treppe zurück, dann erneut quer über den Suq. Ein kleiner, mit zwei Stöcken bewaffneter Junge schleppte in seiner Armbeuge etwas leuchtend Gelbes mit sich herum. Knapp vor dem Brunnen erwischte Carl ihn. Der Junge, keine zehn Jahre alt, hielt schreiend, kratzend und beißend seine Beute umklammert, boxte Carl in den Magen und versuchte, sich loszureißen. Carl schleuderte ihn gegen eine Hauswand. Er riss den Blazer hoch und durchwühlte die Taschen nach dem Kugelschreiber. Der Kugelschreiber war nicht da. Nicht in der rechten Seitentasche, nicht in der linken. Auf allen vieren versuchte der Junge davonzukriechen. Mit einem Tritt in die Seite brachte Carl ihn zu Fall. Einen Fuß auf den Hals des Jungen gestellt untersuchte er die Innentasche des Blazers, dann wieder die Seitentaschen. Um die kleine Gruppe herum drängten sich Männer mit erhobenen Knüppeln. «Er hat mich beklaut! Das Drecksbalg hat mich beklaut!», rief Carl, während er weiter nach dem sich Windenden trat. Plötzlich ertasteten seine Finger den Kugelschreiber in der rechten Seitentasche, die er schon dreimal durchsucht hatte. Im selben Moment traf ihn ein Schlag an der Schulter. Carl taumelte, stieß die

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