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Herrndorf, Wolfgang - Sand

Herrndorf, Wolfgang - Sand

Titel: Herrndorf, Wolfgang - Sand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Troll Trollson
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Horizont war der Giebel der Scheune zu erkennen.
    Mit angehaltenem Atem grub er den toten Körper ganz aus und drehte ihn mit zwei Fußtritten herum. Ein Mann schwer bestimmbaren Alters, das Gesicht mit offenen, sandblinden Augen. Als Todesursache schnitt überdeutlich ein dünner Draht in den blutverkrusteten Hals. An beiden Enden des Drahtes waren zerbrochene Bleistifthälften eingerollt. Ein Menjou-Bärtchen saß wie ein staubiger Schmetterling auf der fauligen Blüte des blau angelaufenen Gesichts.
    Das konnte nur Cetrois sein! Hatten ihn die vier Männer also erwischt. Während Carl mit der Leiter vom Dachboden heruntergeturnt war. Aber wo war das Moped?
    Carl ging einen kleinen Kreis in den Dünen ab, dann einen größeren und einen noch größeren. Kein Moped zu sehen. Stattdessen die parallelen Reifenspuren eines Autos, die zur Scheune führten. Er hockte sich neben die Leiche. Vielleicht war das mein Freund, dachte er. Vielleicht mein Feind. Er nahm eine Handvoll Sand und ließ sie in den Mund des Toten rieseln.
    Dann durchsuchte er die Taschen des hellgrauen Anzugs, aber jemand schien ihm zuvorgekommen zu sein. Kein Schlüssel, kein Portemonnaie, kein persönlicher Gegenstand. Allein ein in Aluminiumpapier eingewickeltes altes Kaugummi und ein paar rötliche Papierschnipsel fanden sich in der rechten Hosentasche. Die Schnipsel waren mit Schreibmaschine beschrieben. Carl versuchte kurz und ergebnislos, sie in seiner Handfläche zusammenzupuzzeln, und steckte sie dann ein. Abermals durchsuchte er gründlich die Taschen, er fand noch einige Fetzen und steckte auch diese ein.
    Er blieb in der Hocke neben dem Toten sitzen, blickte von Zeit zu Zeit zum Horizont und schaukelte in den Knien wie ein kleines Kind. Dann tastete er nach dem Kugelschreiber in seiner Tasche, schraubte ihn auf und zog noch einmal mit den Zähnen den blauen Plastikstöpsel aus der Mine. Er ließ die beiden Metallkapseln in seine Hand gleiten. Es schien ihm, als ob man sie an der Naht auseinanderschrauben könne. Aber ohne Werkzeug ging das nicht. Mit vier Fingern konnte Carl die kleinen Zylinder kaum greifen, und während er noch daran herumdrückte und zog, glaubte er, aus den Augenwinkeln eine Bewegung in der Wüste zu sehen. Er starrte auf den orangefarbenen Rand einer Düne, hinter der die Sonne unterging. Aber alles war ruhig. Vorsichtig stand er auf, drehte sich einmal um dreihundertsechzig Grad und sah erneut den Schatten. Jetzt war der orange Lichtrand an einer Stelle durchbrochen, auf dem Scheitelpunkt der Düne stand ein etwa mardergroßes Tier. Es rührte sich nicht.
    «Aha?», sagte Carl leise und ging darauf zu. Das Tier tat einen vorsichtigen Schritt zur Seite. Auf seinem Kopf meinte Carl etwas Durchscheinendes zu erblicken. Ganz langsam ging er ein paar Schritte vor, kniete sich hin, streckte eine Hand aus und machte ein leise schnalzendes Geräusch, das er für vertrauensbildend hielt. Mit schiefgelegtem Kopf und ein wenig seitwärts kam das Ouz auf ihn zugetrottet. Es hatte zwei spitze Schneidezähne, die über die Unterlippe hingen. In dieser Miniaturform wirkte es aber nicht sehr gefährlich. Das Gebilde auf seinem Kopf entpuppte sich beim Näherkommen als ein gezacktes Stück Papier, durch das die letzten Strahlen der Sonne schienen. Carl erkannte Buchstaben darauf. Vorsichtig griff er dem Tier mit einer Hand unter den Bauch und hob es hoch. Es bewegte sich nicht, sondern fiepte nur ein wenig und schnupperte. «Ksch», sagte Carl. «Ksch.»
    Der Papierstreifen war dem Tier mit einem Gummiband um den Kopf gebunden, und Carl drehte es vor seinem Gesicht herum, um lesen zu können, was dort stand: A man may be born, but in order to be born he must first die, and in order to die he must first awake … und weiter kam er nicht. Kreischend schleuderte er das Tier zu Boden, es hatte ihn gebissen. Der präzise Abdruck zweier Zahnreihen war auf seinem Handgelenk zu erkennen, dann sickerte Blut aus der Wunde. Es lief sofort bis zum Ellenbogen und tropfte in den Sand. Ohne Eile trottete das Tier davon, sah sich auf dem nächsten Dünenkamm noch einmal um und verschwand in der Dämmerung.
    Der Schmerz war erstaunlich, als habe sich die Wunde sofort entzündet. Carl hockte im Sand, und daran, wie er sich mit der rechten Hand abstützte, merkte er, dass er schon lange keine Faust mehr machte. Er hatte die Metallkapseln fallen gelassen. Unter sich sah er nur grau in grau, Sand und Kiesel und dunkle Blutkleckse und sonst nichts. Mit

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