Herrndorf, Wolfgang - Sand
hörte nicht auf, ihn zu beleidigen, ihn weiter von sich fortzustoßen und gleichzeitig ihre Dienste anzubieten.
«Ich hab kein Geld.»
Sie klopfte seine Hosentaschen ab und griff ihm unter beifälligem Gejohle der Umstehenden in den Schritt. Er sprang zurück. Sie zog ihn in den nächsten Hauseingang. Einen langen Gang hinunter, in ein winziges Zimmer. Auf dem Boden lag eine Matratze ohne Bettzeug. Die Erinnerung an die biedere Frau in Tindirma erlosch sofort. Plötzlich schien aller Elan das Mädchen verlassen zu haben. Zitternd stand sie mitten im Raum.
«Kennen wir uns?», fragte Carl erneut, der sich nun fast sicher war, dass sie einander nicht kannten.
«Hast du was dabei?»
«Kennst du mich?»
«Willst du die Psychonummer?»
«Du hast Charly gesagt.»
«Ich kann auch Alphonse zu dir sagen. Oder Rashid. Herr General. Ich blas dir einen.»
Sie zerrte an seinen Hosen. Er hielt ihre Hände fest.
«Du hast was dabei!», kreischte sie in höchster Aufregung.
«Ich will nichts von dir. Ich will nur wissen, kennst du mich?»
Sie zeterte weiter. Ihr flackernder Blick, ihre verständnislos-verzweifelte Mimik … nein, sie kannte ihn nicht. Ein verwirrtes, drogensüchtiges Straßenmädchen. Carl griff nach der Türklinke, und das Mädchen schrie: «Bleib stehen, du Scheiße! Du kannst jetzt nicht abhauen! Wenn du und dein beschissener Kumpel das nicht auf die Reihe kriegen –»
«Was für ein Kumpel?»
«Willst du einen Dreier? Ich hol die Titi.»
«Was für ein Kumpel?»
«Du widerliches Schwein.»
An der Tür stehend, die Hand auf der Türklinke, stellte er weitere Fragen, vergebens. Alles, was er zu hören bekam, war eine Flut von Schimpfworten. Carl ließ die Klinke los und unternahm einen letzten Versuch. In möglichst beiläufigem Ton fragte er: «Wann hast du Cetrois zuletzt gesehen?»
«Hä?»
«Antworte einfach.»
«Soll ich dir in den Mund pissen?» Sie versuchte, einen Zeigefinger zwischen seine Lippen zu bohren. Er machte einen Satz zurück.
«Leg dich hin, ich setz mich auf dein Gesicht und piss dir in den Mund.»
«Wann hast du ihn zuletzt gesehen?»
«Wen?»
«Cetrois.»
«Schlag mich. Du kannst mich schlagen. So fest du willst. Ich kack dir auf die Brust. Ich blas dir das Hirn raus. Ich mach, was du willst.»
«Dann antworte auf meine Frage.»
«Welche Frage?» Tränen liefen über ihr zerstörtes Kindergesicht. Jammernd sackte sie auf die Knie, «Gib mir das Zeug. Ich weiß, du hast es.»
Er steckte beide Hände in die Taschen seiner Bermudas und sagte, jedes Wort einzeln betonend: «Kennst du Cetrois?»
Sie wimmerte.
«Weißt du, wo er ist?»
«Du kranke Psychoscheiße.»
Warum antwortete sie nicht einfach? Oder wenn sie ihn nicht kannte, warum sagte sie nicht einfach, dass sie ihn nicht kannte? Er hob ihr Kinn hoch, zog eine der braunen Ampullen aus seiner Tasche und beobachtete die Reaktion des Mädchens.
«Einfache Frage, einfache Antwort. Wo. Ist. Er.»
Einen kurzen Moment lang blickte sie ihn apathisch an. Dann stürzte sie sich auf ihn. Ihr federleichter Körper prallte von seinem ab. Er hielt den Arm mit der Ampulle senkrecht in die Luft.
«Antworte.»
«Gib’s mir!» Sie hopste an seinem Arm auf und ab, fluchte wie ein Seemann, riss an seinen Kleidern. Schließlich versuchte sie, an seinem Körper hochzuklettern, den Blick zielstrebig auf die erhobene Faust gerichtet.
«Du kriegst das Zeug … auch wenn du es nicht weißt. Aber antworte. Kennst du mich?»
«Ich scheiß dir in den Mund.»
«Kennst du Cetrois?»
«Du krankes Schwein!»
«Wo ist er? Was macht er?»
Kreischend wie eine Feuerwehrsirene hing sie an seinem Hals. Mit ihren kleinen Fäusten trommelte sie auf seinen Rücken. Ihr Busen war plötzlich unter seinem Kinn, ein Geruch nach Frauenschweiß, Verzweiflung und Erbrochenem. Vielleicht lag es an diesem Geruch, vielleicht an der körperlichen Nähe, vielleicht an der Selbstverständlichkeit, mit der sie jede Kommunikation ins Leere laufen ließ, dass er auf einmal den Eindruck hatte, diese Frau stehe ihm näher, als ihm lieb sein konnte. Im furchtbarsten Fall war sie seine Geliebte aus einem früheren Leben. Fast gleichzeitig und parallel dazu hatte er den Eindruck, dass sie ihn überhaupt nicht kannte. Dass sie gar nichts wusste. Dass sie einfach verrückt war, eine Prostituierte mit von Drogen rausgeschossenem Hirn, die weder ihn noch einen Kumpel kannte und jeden Freier mit Charly anredete. Und um Stoff anbettelte. Vielleicht war Charly
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