Herrndorf, Wolfgang - Sand
hier der Standardname für Freier? Und hatte sie überhaupt Charly gesagt? Hatte sie nicht vielleicht von Anfang an Cheri gesagt?
«Gib mir das Morphium», brüllte sie, ließ sich auf den Boden fallen und führte eine Choreographie der Selbsterniedrigung auf wie ein dreijähriges Kind.
«Du kriegst es», sagte er mit einem Blick auf die fast unleserliche Beschriftung der Ampulle. «Beantworte nur die eine Frage. Kennst du mich?»
Sie schluchzte.
«Ich hab sogar zwei davon.» Er holte die andere Ampulle aus der lasche. «Oder wenn du mich nicht kennst – kennst du meinen Kumpel?»
«Du Schwein.»
«Wann hast du Cetrois zuletzt gesehen?»
«Du Psychoscheiße! Du Dreck!»
Psycho. Das dritte Mal. Was hatte sie immer damit? War das einfach nur ein Schimpfwort für sie, oder hatte das irgendeine Bedeutung? War sie in Behandlung? War er ihr Psychologe? Oder war er ein stadtbekannter Irrer und sie sein Opfer? Aber sooft er sie fragte, so wenig bekam er Antwort. Versuchsweise ließ er schließlich eine Ampulle fallen. Glassplitter, ein Verzweiflungsschrei. Das Mädchen stürzte sich auf den Fußboden und leckte Flüssigkeit und Glassplitter mit der Zunge auf.
«Kennst du mich jetzt?»
«Fick deine Mutter!»
«Kennst du Cetrois?»
«Gib mir die andere!»
«Wo ist er? Was macht er? Warum antwortest du nicht?»
Sie tobte und schrie, und so langsam dämmerte es ihm, dass sie gar nichts wusste. Sie kannte ihn nicht, sie kannte niemanden. Sie hatte ihn einfach auf der Straße mit irgendeinem Namen angesprochen, und er war darauf reingefallen wie der dümmste Freier der Welt. Mit einem Rest von Mitleid warf er ihr einen Geldschein hin und ging hinaus.
«Du willst wissen, was Cetrois macht?», brüllte sie ihm hinterher.
Er sah sie am Boden kauern. Sie zog Glassplitter aus ihrer Zunge und lachte, blutige Fäden zwischen den Lippen.
«Du willst wissen, was Cetrois gerade macht? Ich sag dir, was er gerade macht. Er steht in der Tür und gibt mir nicht mein Zeug. Das ich bezahlt hab! Ich hab’s bezahlt, du Schwein! Ich hab dir in den Mund gepisst, du Stück Scheiße, ich hab dich hundertmal gefickt, ich hab’s satt, deine Scheißspielchen. Es gehört mir! Es gehört mir, es gehört mir, es gehört mir, es gehört mir, es gehört mir!»
Er nahm einen Moment nichts mehr wahr. Sein Blick ging ins Unendliche. Cetrois.
Im nächsten Moment brach er unter ihrem Gewicht zusammen. Sie hatte sich auf ihn gestürzt und ihn zu Boden gerissen. Sie wälzten sich herum. Die zweite Ampulle war ihm längst entglitten. Das Mädchen merkte es nicht und biss ihm in die leere Hand. Er schlug ihr den Ellenbogen ins Gesicht und versuchte, von ihr wegzukommen. Unter seinem Rücken knackte Glas.
Die Laute, die sie von sich gab, hatten nichts Menschliches mehr. Ihn beiseiteschiebend schlappte sie mit der Zunge über den Boden und versuchte, die letzten zwischen den Ritzen der Dielen versickernden Tropfen zu erwischen. Benommen trat Carl auf den Flur.
Blick zurück: blutiges Elend.
Blick nach vorn: eine Faust in seinem Gesicht.
Er wurde ins Zimmer geschleudert und an die Wand geklatscht. Ein mächtiger, schwarzer Körper. Einen Kopf größer als er, gekleidet in bunten, westafrikanischen Fummel, Arme wie Treckerreifen. Eine Frau. Sie hatte keine Ähnlichkeit mit ihrer ausgemergelten Kollegin, und doch sah man sofort die professionelle Verwandtschaft. Die Schwarze drückte ihm mit einer Hand die Kehle zu und schrie: «Was hat er dir getan, mein Liebling? Was hat er dir getan? Der böse Mann!»
Sie riss Carl an den Haaren nach unten und rammte ihm ein paarmal routiniert ihr Knie ins Gesicht. Er fühlte die Platzwunde an seinem Hinterkopf aufreißen und sackte zusammen. Die Afrikanerin ließ sich einfach auf ihn fallen, drei Zentner mindestens. Von der Seite kam das Drogenwrack, wischte sich mit dem Handrücken Blut vom Mund und schwang ein Stuhlbein durch die Luft. Das Stuhlbein traf Carl zuerst an der Schulter, dann noch mal an der Schulter, dann im Gesicht. Er versuchte, seinen Körper unter der Schwarzen herumzudrehen. Das Hemd wurde ihm über den Kopf gerissen. Warmer Eisengeschmack in seinem Mund, flinke Hände in seinen Taschen. Er verlor das Bewusstsein. In einem Straßengraben kam er zu sich. Für den zehnminütigen Fußweg zum Sheraton brauchte er fast eine Stunde.
Er gab keine Erklärungen ab, schlurfte einfach an Helen vorbei in den Bungalow, zog im Gehen Hemd und Bermudas aus und drehte im Bad die Dusche auf. Fast zwanzig
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