Herrndorf, Wolfgang - Sand
sein, weshalb er den fünfmal gesiebten Sand jetzt auf einen anderen Hügel warf für den Fall, dass er den weniger sorgfältig gesiebten Sand noch einmal durchsuchen müsste.
Die Sonne hatte den Zenit schon überschritten, als es zum ersten Mal silbern und metallisch zwischen den Sandkörnern aufblinkte, und während Carl noch schwitzend und verzweifelt auszurechnen versuchte, wie viele Stunden Arbeit noch vor ihm lägen, wenn er schon für die erste Kapsel über einen halben Tag gebraucht hatte, folgte die zweite schon drei, vier Handvoll Sand später wie ein diebisches Kind, das nicht mehr zu fliehen wagt, sobald man seinen kleinen Komplizen am Kragen gepackt hat.
Carl schob beide Kapseln zurück in die Mine, verschloss sie wieder mit dem blauen Plastikstopfen und dachte darüber nach, ob ein anderer Ort zur Aufbewahrung nicht sicherer wäre. In seinem Portemonnaie? In der Tasche des Blazers? Oder schluckte er sie am besten gleich hinunter? Er nahm seinen Schlüsselbund, den Notizblock und die Morphiumampullen aus den Seitentaschen, steckte sie in seine Bermudas und klipste den Kugelschreiber allein an der Innentasche des Blazers fest. Während er sich noch ernsthaft mit diesen Dingen beschäftigte, sah er plötzlich eine flirrende Gestalt durch die Wüste auf sich zukommen. Eine schmuddlig-weiße Dschellabah, es war ein sehr alter Mann.
Er kam direkt aus Richtung der Scheune und brüllte schon von weitem Unverständliches. Diesmal hielt er keinen Dreizack in der Hand, aber Carl erkannte ihn auch so, und während er noch die läuferischen Qualitäten seines Gegenübers und die Gefahr, die von ihm ausging, abzuschätzen versuchte, merkte er auch schon, dass das Erkennen nicht auf Gegenseitigkeit beruhte. Laut lallend stampfte der Alte die Düne hoch, nannte Carl die Unsichtbare Königsbrigade, zeigte sich höchst erfreut über ihr Erscheinen und gab hustend und keuchend seiner Hoffnung Ausdruck, die Leichen seiner beiden Söhne nun bald wieder in die väterlichen Arme schließen zu dürfen.
Er war schon fast neben Carl angelangt, als er plötzlich zusammenzuckte, «Mein Goldjunge!» rief und über der Leiche in den Sand stürzte. Er brauchte fast zehn Minuten, um seinen Irrtum zu bemerken. Nein, sein Sohn hatte nie einen hellgrauen Anzug getragen. Nur die Dschellabah. Aber wo war denn jetzt das Moped?
Das war eine Frage, die Carl ihm auch nicht beantworten konnte, und alles, was er der sich anschließenden, fast einstündigen, Suada des Alten entnehmen konnte, bevor er ihn friedlich schnarchend neben der Leiche zurückließ, war, in drei Sätzen zusammengefasst: dass der Alte offenbar zwei Söhne verloren hatte, von denen einer erschlagen worden war und der andere verschollen. Dass er sich auf der Suche nach ihren Leichen die Hilfe einer höchst geheimen Polizeibrigade erhoffte. Und nicht zu vergessen: Er suchte auch sein Moped.
Den Blazer als Schutz gegen die Hitze um den Kopf gewunden, wanderte Carl weiter Richtung Westen. Der brennende Durst, den er seit dem Erwachen gespürt hatte, steigerte sich ins Unerträgliche, sobald er die Ausläufer der Bidonvilles am Horizont auftauchen sah. In kraftlosen Schlangenlinien stürzte er zwischen den ersten Wellblechbaracken hindurch, rannte in einen schmutzigen Laden, kaufte eine Literflasche Wasser und trank sie im Stehen. Dann eine zweite. Mit der dritten, angebrochenen Flasche ging er um die Hütte herum, pinkelte erleichtert gegen die Rückwand und rief dem Ladeninhaber währenddessen zu, ob es hier irgendwo ein Telefon gebe. Tatsächlich stand in einem Bretterverschlag zwei Straßen weiter, wo jemand eine Art Café betrieb, ein schwarzes Bakelitgerät.
Carl ließ sich mit dem Sheraton verbinden. Helens Stimme meldete sich sofort. Helen! Sie war unverletzt, es ging ihr gut, und noch bevor sie Carl erklären konnte, wie und warum sie dem Inferno rechtzeitig entkommen war, schrie er schon in den Hörer, dass er die Mine gefunden habe … ja, die Mine, er habe sie in seiner Tasche, zwei winzige Kapseln in einem Kugelschreiber, er wiederhole, in einem Kugelschreiber … doch, er sei ganz sicher, dies sei die Mine, und sie müsse ihn sofort abholen, weitester Ausläufer des Salzviertels gen Osten, er wiederhole, weitester Ausläufer des Salzviertels, letztes stinkendes Café an der mittleren Straße durch die Baracken … dort warte er auf sie. An der größten Straße. Also der breitesten. Am östlichsten Punkt. Ein Bretterverschlag mit Telefon. Er hörte den
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