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Herrndorf, Wolfgang - Sand

Herrndorf, Wolfgang - Sand

Titel: Herrndorf, Wolfgang - Sand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Troll Trollson
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Säuberungswellen zwei bis vier jedenfalls ausgenommen wurde, während der schwesterliche Slum im Süden immer tiefer in seinem Elend versank.
    Nachdem es einige Minuten still gewesen war, meldete sich die Stimme der Telefonistin zurück mit der Mitteilung, im Bungalow 581 d hebe niemand ab.
    Carl rannte hinaus. Oder versuchte es. Der Wirt hielt ihn am Arm fest. Ach ja, die Rechnung. Er holte ein paar Münzen heraus, sah sich nach seinem Blazer um, und sein Blazer war verschwunden. Er starrte den Wirt an. Der Wirt drehte die Handflächen nach oben. Zwei schwitzende Männer auf der Straße. Über den Wellblechdächern des Leeren Viertels lagen die bleischwere Mittagshitze und ein verklingender Chor aus Schulkinderstimmen. Kreischende Schulkinder, fröhliche Schulkinder, rennende Schulkinder im Besitz eines gelben Damenoberbekleidungsstücks, in das ihnen die traurige Vorsehung nichts weiter gegeben hatte als einen billigen Kugelschreiber.
    Stunden um Stunden, bis tief in die Nacht, lief Carl zuerst im Leeren Viertel und dann im Salzviertel auf und ab. Er bot viel Geld für den Blazer. Man sah ihn an wie einen Verrückten, zuckte die Schultern und wusste von nichts. Von Helen, die er sonst wohin geschickt haben mochte, keine Spur. Einen östlichsten Ausläufer des Salzviertels gab es zwar, aber dort keine breite Straße, keine Baracke mit Telefon und nichts, was seiner Beschreibung entsprochen hätte. Falls Helen versucht hatte, ihn hier irgendwo zu finden, hatte sie sicher längst aufgegeben. Neben einem abendlichen Müllhaufen sank Carl zusammen. Zwei Hunde schnupperten an ihm, ein Huhn keifte ihn an. Er zog die Morphiumampullen aus den Taschen seiner Bermudas, hielt sie gegens Licht und war sich nicht sicher, ob die Dosis genügte, sich umzubringen.

    CHERI
     
    Zu den wesentlichen Bestandteilen einer Persönlichkeit gehört nach der Anschauung der Primitiven ihr Name; wenn man also den Namen einer Person oder eines Geistes weiß, hat man eine gewisse Macht über den Träger des Namens erworben.
    Freud
     
    Er stolperte den Hafen entlang. Setzte sich auf einen Poller. Sah abfahrenden Schiffen hinterher. Mein Leben, dachte er. Vor ihm blieb ein Junge stehen und spuckte einen braunen Batzen Schleim in die Luft, dem er beim Zu-Boden-Fallen so interessiert hinterhersah, als habe er die Auswirkungen der Schwerkraft noch nie in dieser Deutlichkeit studiert oder ihr Ausbleiben in diesem einen speziellen Fall für möglich gehalten. Carl winkte ihn heran und fragte, ob er hier zur Schule gehe. Und wenn ja, wo genau. Der Junge lachte. Er machte eckige Gesten. Er war taubstumm.
    Nein, die Mine war für immer verloren. Carl wusste das. Cetrois würde er nicht finden, und außer Helen gab es keinen Menschen, dem er vertraute. Während er sich in Richtung Sheraton quälte, erwog er, trotz seiner deutlichen Abneigung Dr. Cockcroft noch einmal in dessen Praxis zu besuchen.
    Vor ihm blockierte ein Obstkarren die enge Gasse. Neben ihm pries jemand Schuhe an. Hinter sich hörte er eine heisere Stimme.
    «Charly, hey.»
    Er drehte sich um. Im ersten Moment sah er niemanden.
    «Bleib stehen, du Trottel, du Arschloch! Hey!»
    Halb verdeckt von einer Säule stand eine ausgemergelte Frau an eine Hauswand gelehnt. Ein verwüstetes Gesicht. Ihr Geschrei bildete einen seltsamen Kontrast zu ihrer Bewegungslosigkeit.
    «Was hast du gesagt?» Er ging ein paar Schritte zurück. Aus der Nähe erst sah er, wie jung sie war. Höchstens sechzehn. Blutige Male an den Unterarmen, Gesicht und Hals schwärenübersät.
    «Arschloch hab ich gesagt.»
    «Vorher.»
    «Trottel! Du Trottel.» Sie stieß sich von der Wand ab. «Du hast Charly gesagt.»
    «Trottel hab ich gesagt. Arschloch, Charly, Cheri, du Kacke. Mein Liebling. Hast du was dabei?»
    Sie streckte die Hand nach ihm aus, er wich zurück.
    Aus ihren Gesten und ihrem Verhalten vermochte er nicht zu erkennen, ob sie eine Prostituierte, eine Geisteskranke oder schon wieder eine Nymphomanin war.
    «Wir kennen uns», sagte er unsicher.
    «Soll ich dir einen blasen?»
    «Das war eine Frage.»
    «Das war auch eine Frage.»
    «Warum hast du mich Charly genannt?»
    Sie schubste ihn an den Schultern von sich weg und fuhr fort, ihn zu beschimpfen.
    Einige Passanten blieben stehen und lachten. Die Männer im Kaffeehaus gegenüber erhoben sich von ihren Sitzen, um besser sehen zu können. An der Kreuzung, nur einen Steinwurf entfernt, sah Carl zwei Uniformierte. Die Situation war unangenehm. Das Mädchen

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