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Herrndorf, Wolfgang - Sand

Herrndorf, Wolfgang - Sand

Titel: Herrndorf, Wolfgang - Sand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Troll Trollson
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eigenen Enthusiasmus und Helens Aufregung, hörte den Befehl, sich nicht von der Stelle zu rühren, sie komme sofort, und als er auflegte, stand der Wirt mit einem Teller zerkochter Suppe hinter ihm, den er hochhielt wie ein Tablett erlesener Spezereien. Das ginge aufs Haus.
    Ein improvisierter Tisch aus Obstkisten stand auf der Straße, dort setzte Carl sich mit der Suppe nieder. Er legte seinen Blazer vor sich hin und schloss die Augen. Zum ersten Mal seit dem Vorfall in der Scheune fühlte er sich gut, fühlte er sich auf der sicheren Seite, auch wenn er wusste, dass das, was jetzt auf ihn zukam – Übergabe der Kapseln an Adil Bassir, Verhandlung um seine Familie, Aufklärung seiner Identität –, vielleicht das Schwierigste von allem sein würde. Aber die Unsicherheit war weg. Die furchtbare Unsicherheit.
    Er aß und trank, bürstete seine Kleider ab, leerte den Sand aus seinen Taschen und überprüfte noch einmal die Innentasche des Blazers. Er wusch sich unter dem Tisch die Hände mit ein wenig Trinkwasser, goss den Rest über seine geplagten Füße und schaute die Straße entlang. Sandfarbene Kinder spielten mit einem sandfarbenen Fußball zwischen sandfarbenen Hütten … Dreck und zerlumpte Gestalten, und ihm fiel ein, wie gefährlich es im Grunde war, eine weiße, blonde, ortsunkundige Frau in einem Auto hierherzubestellen. Andererseits hatte Helen sich ja schon mehr als einmal als furchtlos erwiesen; und nun war ohnehin nichts mehr zu machen. Er beobachtete einen Hund, der sich, an seinem Schwanz riechend, im Kreis drehte. Der Fußball flog scheppernd auf ein Wellblechdach. Dann kreuzte eine Schar Kinder mit schäbigen Holztafeln und zerfledderten Heften den Weg, ein Bild wie aus dem Poesiealbum, eine mit sentimentalen Versen über vergangene Lebensalter verzierte Bisterzeichnung: goldene Sonne, goldene Jugend. Ein Junge sprang einem anderen auf den Rücken und zeigte mit einer Krücke die Richtung an. Kichernde Mädchen, über Kontinente und Jahrhunderte hinübergreifend. Ein einbeiniges Kind hopste weinend und krückenlos den anderen hinterher. «Monsieur Bekurtz, oú est-il?»
    Das Poesiealbum klappte zu, als ein Junge auf Carl zusprang und schreiend ein Bakschisch verlangte. Der Wirt kam heraus und peitschte den Störenfried mit einem Geschirrhandtuch davon. Er nannte die Kinder ein dreckiges Geschmeiß, das seine Gäste belästige, einen Abschaum, verschissene Brut aus dem verschissenen Salzviertel. Im Davonrennen schnitten sie Gesichter, der Wirt warf ihnen eine Handvoll Kiesel hinterher.
    Carl starrte den Wirt an und sagte: «Was?»
    «Ja?»
    «Was haben Sie gesagt?»
    «Dass sie verschwinden sollen.»
    «Nein, Verschissen … das verschissene Salzviertel?» Schulterzucken, eine weitere Handvoll Kiesel, böse Augenbrauen.
    Carl setzte nach: «Aber wir sind doch hier im Salzviertel?»
    «Mein Herr!», rief der Wirt empört und zeigte über die Hütten seiner stolzen Heimat hinweg, und bevor er noch seiner Gekränktheit weiteren Ausdruck verleihen konnte, war Carl schon aufgesprungen und zum Telefon gerannt. Er ließ sich erneut mit dem Sheraton verbinden. Der Wirt kam ihm misstrauisch hinterher, stellte sich direkt vor ihn hin und hob nur zwischendurch einmal die Hand, um Daumen und Zeigefinger gegeneinanderzureiben. Die Telefonistin sagte: «Ich verbinde.»
    Das Leere Viertel. Er war im Leeren Viertel.
    «Geh ran!», sagte Carl, «geh ran!»
    Anfang der fünfziger Jahre hatten Bulldozer erstmals eine breite Schneise durch die Lehmhütten und Wellblechbaracken der riesigen Slums rund um Targat gepflügt und vom Salzviertel einen kleinen Zipfel im Norden abgetrennt. Die Maßnahme war bekannt geworden als Säuberungswelle eins. Seitdem verhielten sich Salzviertel und Leeres Viertel wie verfeindete Fußballmannschaften. Man gehörte zwar immer noch irgendwie zueinander, sprach auch noch erkennbar die gleiche Sprache und lebte im gleichen Dreck, aber dank einer mehrere Kilometer breiten Schneise zwischen den Vierteln legte man nun Wert auf die Feststellung, dass man ein anderer Dreck war. Dünkel und Überlegenheitsgefühle verursachte den Bewohnern des Leeren Viertels vor allem die Tatsache, dass an ihnen vorbei eines Tages ein paar Stromleitungen und sogar ein Telefonkabel verlegt worden waren, die sie in aller Eile angezapft hatten. Das verschaffte dem Leeren Viertel schon nach kurzer Zeit einen solchen Zivilisationsvorsprung, dass es sich fast in die Legitimität zu retten vermochte und von den

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