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Herrndorf, Wolfgang - Sand

Herrndorf, Wolfgang - Sand

Titel: Herrndorf, Wolfgang - Sand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Troll Trollson
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ist verworren und das menschliche Leben kurz.
    Protagoras
     
    Endlose Herden ungelenker, hölzerner Ziegen, in deren Innerem als Priester verkleidete Holzwürmer arbeiteten, staksten durch seine Träume. Mit einer Handbewegung, als müsse er die Gespenster vertreiben, setzte er sich im Morgenlicht auf.
    Nachdem er eine Viertelstunde oder länger vor sich hingebrütet hatte, lief er zum Bungalow hinauf. Zwanzig oder dreißig Schritt unter der Terrasse zögerte er. Er kniete sich hinter einen Baum und weinte. Und wartete. Schließlich klopfte er an die Tür. Er drückte sein Auge von außen an den Spion, klopfte noch einmal und ging dann um das Haus herum und schaute in jedes Fenster. Die Jalousien im Schlafzimmer waren nicht herabgelassen. Das Bett war leer. Helens Koffer stand nicht mehr auf der Kommode.
    Mit dem Zweitschlüssel, den er immer noch in der Tasche trug, öffnete er die Tür. Er rief Helens Namen. Ging von Zimmer zu Zimmer. Alles war ausgeräumt. Auf dem Nachttisch lag ein nicht ausgefülltes Formblatt des Hotels. Allein die chromblitzende Maschine mit der polnischen Aufschrift, die sie gemeinsam in der Werkstatt eingeladen hatten, stand noch auf der Anrichte. Und ein Korb mit Obst.
    Nächst der Verzweiflung, die Carl bei seinem ersten Erwachen in der Scheune empfunden hatte, als er spürte, dass sein Gedächtnis nicht zu ihm zurückkehrte, war dies der schlimmste Moment. Und er wusste nicht einmal, ob Helen den Bungalow seinetwegen so eilig verlassen hatte. Über Reisepläne hatten sie nicht gesprochen.
    An der Rezeption war der Hauptschlüssel abgegeben worden, wie ein Hotelangestellter mit einem Maximum an Verbindlichkeit mitteilte, und der Bungalow war noch für zwei Tage bezahlt. Auskünfte über die überstürzt abgereiste amerikanische Geschäftsfrau hingegen gab es nicht. Welche Geschäftsfrau? Heute Morgen? Nein, der Nachtportier sei nicht mehr im Haus.
    Carl setzte sich auf die Terrasse des Bungalows, aß einen Apfel und schaute über die Pinien aufs Meer. Er öffnete den Kühlschrank. Das Gefrierfach. An der chromblitzenden Maschine las er noch einmal die Aufschrift mit den technischen Daten. Im Fernsehen lief leise grau flimmernd ein Spielfilm. Zum zweiten Mal klaubte er die Papierschnipsel aus dem Mülleimer, puzzelte sie aber nicht mehr zusammen. Er schüttelte die Bettdecke auf. Er hob die Kopfkissen hoch. Unter einem fand er einen Pullover, den er sich auf das Gesicht hielt und durch den er einige Minuten lang hindurchatmete, bevor er ihn sich überstreifte. Er schaute unter das Bett.
    Dort entdeckte er Holzspäne eines zerschnitzten Bleistifts und ein rosa Gummiband, in das einige lange, blonde Haare verknotet waren.
    Im Bad fand Carl eine leere Shampooflasche, und immer wieder blieb er vor der chromblitzenden Maschine stehen. Warum hatte Helen sie mit einer Mine verwechselt? Hatte sie das überhaupt? Er untersuchte den zweipoligen Einbaustecker an der Seite und sah sich nach einem Kabel um, das er zweckentfremden konnte. Das Kabel der Nachttischlampe war fest montiert, aber der Fernseher verfügte über eine Doppelader. Allerdings passte der Stecker nicht zur Maschine.
    Resigniert ließ er sich aufs Sofa fallen und schaltete mit dem Fuß die Programme um. Testbild, Testbild, Spielfilm.
    «Now you listen to me. FH only say this once. We are not sick men.»
    Er biss in den Apfelstrunk, kaute einmal und spuckte den Bissen über den Fernseher.
    Unter den feuchten Obstresten flimmerte Helens Gestalt über den Bildschirm. Carl schloss einen Moment die Augen, und als er sie wieder öffnete, war es nicht Helen. Es war nicht einmal eine Frau. Es war Bruce Lee. Mit tänzerischer Leichtigkeit trat er durch ein helles Lichtviereck in einen dunklen Raum und schlug einem durch sein Lachen als bösartig erkennbaren Mann mit der Handkante den Kehlkopf ein. So, wie Helen es gemacht hatte. Genau so.
    Weitere Apfelreste aushustend und spuckend und kopfschüttelnd ging Carl über die beiden Terrassen hinunter zum Strand. Dort sonnten sich einige bleiche Europäer. Eine Sturmböe rollte ihre Handtücher auf.
    Auf schwarzem Lavagestein, das dem Gelände zur einen Seite hin eine natürliche Begrenzung gab, setzte Carl sich an eine windgeschützte Stelle und starrte auf die Wellen, die ihren zeitlosen Geschäften nachgingen.
    Schräg unter ihm hockten zwei Berberinnen in blauen Tüchern. Ein junges Mädchen von vielleicht zwölf Jahren und eine Greisin mit Totenkopfgesicht, Augen wie Löcher. Die Greisin

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