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Herrndorf, Wolfgang - Sand

Herrndorf, Wolfgang - Sand

Titel: Herrndorf, Wolfgang - Sand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Troll Trollson
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will. Ich nehme keinen Anstoß daran, dass er nicht ins Krankenhaus will und dass ein Facharzt sagt, einen solchen Gedächtnisverlust gibt es nicht.»
    «Gibt es wahrscheinlich nicht.»
    «Wahrscheinlich, am Arsch. Aber schön, dass du von Wahrscheinlichkeit anfängst. Darauf wollte ich auch gerade kommen. Ich kümmere mich also um diesen Mann. Ich kümmere mich um einen Mann, dessen Identität völlig im Dunkeln liegt, der behauptet, nichts weiter zu besitzen als das, was er am Leibe trägt, plus die verkokelte Ecke eines Ausweises, dessen entscheidender Rest von irgendwelchen Hippies verbrannt wurde. Wie wahrscheinlich ist das? Und kaum bei mir angekommen, wird er von einem Gangsterboss entführt. Er kriegt einen Brieföffner durch die Hand gerammt und verrät auch unter größten Schmerzen weder, dass er sein Gedächtnis verloren hat, noch, dass er einen Kumpel namens Cetrois besitzt. Oder zu besitzen glaubt. Tagelang suchen wir verzweifelt diesen Cetrois, und dann stellt sich raus, er ist es selbst. Wie wahrscheinlich ist das? Und kaum haben wir das rausgefunden, trägt unser Mann drei Ausweise in der Tasche. Drei läppisch gefälschte Ausweise, die ganz wunderbar zu seiner von Hippies verbrannten, läppischen Viertidentität passen. Und wo kommen die auf einmal her? Von einer Leiche in der Wüste, einer Leiche mit, ich zitiere, Men-jou-Bärtchen, über die er zufällig mitten in den Dünen gestolpert ist, und zwar schon gestern – und ohne diesen Ausweisen irgendwie Beachtung geschenkt zu haben und ohne sie mir gegenüber zu erwähnen. Der Mann, der mir jeden Abend sein übervolles Herz ausschüttet – das hat er vergessen. Ich finde sie einfach in seiner Tasche. Wie wahrscheinlich ist das?»
    «Es ist nicht sehr wahrscheinlich, aber –»
    «Und zu guter Letzt sucht unser Mann auch noch eine Mine. Was für eine Mine? Das weiß er nicht. Aber durch einen glücklichen Zufall findet er sie plötzlich oder behauptet, sie gefunden zu haben, in einem Kugelschreiber, in einem, ich zitiere, Billigkugelschreiber, und diesen verschissenen Kugelschreiber, der die verschissene Lösung aller seiner verschissenen Probleme darstellt, lässt er sich im Leeren Viertel von einem, ich zitiere, Schuljungen klauen, während er mich mit dem Auto ins Salzviertel schickt. Dein Portemonnaie ist noch da, das Geld, das ich dir gegeben habe, ist da, der Zweitschlüssel für den Bungalow ist da, alles da. Nur der Blazer mit dem Kugelschreiber ist weg. Wie wahrscheinlich ist das? Versetz dich mal in mich rein. Wie wahrscheinlich? Ich meine, hältst du mich für bekloppt?»
    Helens Stimme hatte alles Schleppende und Leiernde verloren. Ihre letzten Sätze schleuderte sie in einem Stakkato hervor, das nach Maschinengewehr klang.
    Verwirrt sah Carl ihr ins Gesicht. War sie sich ihrer Sache wirklich so sicher, wie sie behauptete, oder stellte sie ihn nur auf die Probe? Er wusste es nicht. Und mal angenommen, sie hatte recht? War es möglich, dass alles stimmte, was Helen, ohne dabei gewesen zu sein, und allein durch Kombinatorik über ihn herausgefunden hatte? War es, wie Dr. Cockcroft angedeutet hatte, möglich, ein Simulant zu sein, der von seiner eigenen Simulation nichts ahnte? War es das, was sich aus diesen Papierschnipseln nun notwendig ergab?
    Es fühlte sich für einige Sekunden an, als müsse er wahnsinnig werden. Er versuchte, sich ins Gedächtnis zurückzurufen, was er in den letzten Tagen über sein Leben herausgefunden hatte, und es durch Nachdenken zu einem anderen, irgendwie ebenfalls konsistenten Ganzen zusammenzusetzen, aber es gelang ihm nicht. Dies war längst kein Denken mehr, es war ein Versinken im Nebel. Wie konnte Helen mit Blick auf die verstreuten Teile so klar erkennen, was sie zu erkennen glaubte, nämlich ein Bild voller Widersprüche und Unwahrscheinlichkeiten?
    Dass er das Vertrauen der einzigen Person, die ihm nahestand, zu verlieren drohte, versetzte ihn in Panik. Er stöhnte. Er schwieg.
    «Wenn das alles ist, was du zu sagen hast, dann war’s das jetzt», hörte er. «Dann ist es jetzt vorbei. Ich hab dir geholfen in allem, was ich konnte, aber einen Lügner werde ich nicht beherbergen. Wenn du mir sagen willst, was das für Ausweise sind und wie du da rangekommen bist und vor allem, wer du wirklich bist und wo die Mine ist, dann kannst du mir das jetzt sagen. Sag es mir. Das ist die letzte Gelegenheit. Wer bist du? Und was ist das für eine Scheißmine?»
    In seinem Innern arbeitete es, ohne Ergebnis.

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