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Herrndorf, Wolfgang - Sand

Herrndorf, Wolfgang - Sand

Titel: Herrndorf, Wolfgang - Sand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Troll Trollson
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Helen wischte die Papierschnipsel mit einer Armbewegung vom Tisch. «Na schön», verkündete sie ohne erkennbare Regung. «Ich gehe jetzt an den Strand. Du kannst noch warten, bis deine Wäsche aus der Hotelreinigung eintrifft, aber wenn ich zurückkomme, bist du verschwunden.»
    Sie holte ihren Badeanzug und zwei Handtücher aus dem Bad, ging dann zum Telefon und ließ sich mit den USA verbinden. Auf dem Stuhl zusammengesunken versuchte Carl, das Durcheinander in seinem Kopf mit Gewalt zu durchdringen. Im Nebel erschienen die Umrisse eines weiteren ungeklärten Details. Das Holzgewehr. Ein falsches Gewehr, falsche Ausweise. Der Nebel begann, physisch zu schmerzen. Er wusste, dass er ohne Helen verloren war. Er hörte sie mit ihrer Mutter telefonieren und versuchte nun schon nicht mehr, eine Entgegnung zu finden, er versuchte nur noch, sich vorzustellen, was er zu ihrer Beruhigung sagen konnte. Er hatte in allem die Wahrheit gesagt, und die Wahrheit war unwahrscheinlich. Das wusste er selbst.
    «Es ist vollkommen unwahrscheinlich», begann er erneut. «Aber ich möchte dich etwas fragen. Hätte ich dich bewusst täuschen wollen, hätte ich tatsächlich die ganze Zeit von diesen Ausweisen in meiner Tasche gewusst und dich über ihre Herkunft absichtlich belügen wollen – hätte ich dann etwas so extrem Unglaubhaftes wie eine Leiche mit Menjou-Bärtchen erfunden? Mit einer Drahtschlinge um den Hals? Hätte ich dann nicht einfach etwas sehr viel Wahrscheinlicheres erfinden können?»
    Helens Antwort kam prompt: «Zum Beispiel?»
    Sie nahm die Hand von der Muschel des Telefonhörers, die sie einige Sekunden lang bedeckt hatte, und redete weiter.
    «Nein, niemand, Mutter», sagte sie.
    «Ja, gut», sagte sie.
    «Dann hätte ich es heute Morgen nicht probiert», sagte sie.
    Carl versuchte, sich vorzustellen, was Helens Mutter auf der anderen Seite des Ozeans wohl sagte. Dann dachte er wieder an das Holzgewehr. Er drehte und wendete es im Geiste hin und her.
    «Ja … ja. Nein, ist nicht aufgetaucht und taucht auch nicht mehr auf. Ganz sicher. Ich hab mit der Firma telefoniert, sie schicken einen neuen. Drei neue wären natürlich besser… drei sind immer besser als einer, ja … sofort, wann denn sonst? Ich geh jetzt an den Strand … so wie überall … ja. Carthage ist gut. Grüß ihn von mir», sagte Helen und hängte auf.
    «Wer ist Carthage?», fragte Carl.
    Helen antwortete nicht.
    «Wer ist Carthage?»
    «Mein Hund. Und denk dran: Wenn ich wiederkomm, ist der Bungalow leer.»
    Sie schulterte ihre Badesachen und ging hinaus.
    Carl sammelte die Papierschnipsel vom Boden auf, legte sie mit zittrigen Fingern noch einmal zusammen und sah, was er zuvor schon gesehen hatte: lächerliche Ausweise eines lächerlichen «Tugendkomitees». Er wischte sie wieder vom Tisch, trat auf die Terrasse hinaus und sah einer bereits sehr winzigen Helen hinterher, wie sie zwischen den Pinien verschwand. Das Meer rollte in schmalen Wellen auf den Strand. Kaum war Helen verschwunden, tauchte ein Mann auf dem Weg auf und blieb zwischen den Bäumen stehen. Er war sehr weit entfernt, doch hatte Carl den undeutlichen Eindruck, als starre er ihn an. Ein, zwei Minuten, dann drehte der Mann sich um und ging den Weg zurück zum Strand.
    Carl ließ sich in einen Liegestuhl sinken. Er spürte eine bleierne Müdigkeit. Irgendetwas Unbegreifliches hatte ihn zutiefst erschöpft. In seinem Kopf rasten die Gedanken nicht mehr, sie stolperten nur noch hilflos umher. Aus Angst, Helen noch weiter zu verärgern, wenn er ihrem Gebot nicht Folge leistete, drückte er sich ächzend aus dem Stuhl wieder hoch, trottete von der Terrasse den Weg hinunter zur zweiten Terrasse und kletterte dort über die Brüstung. Hangabwärts taumelnd sah er sich im Unterholz nach einem geeigneten Platz zum Schlafen um und sank im Schutze eines Rutenginsters hin. Das Licht war körnig. Er lag auf dem Bauch. Dann drehte er sich auf den Rücken. Von Zeit zu Zeit schreckte er hoch, als habe ein Gedanke ihn gestreift, aber immer wieder überwältigte ihn die Lethargie. Einen Entschluss zu fassen fühlte er sich nicht imstande. Sein Blick wanderte zu den schwankenden Baumkronen, zwischen denen der Abendhimmel stand wie violettes Glas, und er wünschte sich, er wäre tot.

    CONTRAZOOM
     
    Was die Götter angeht, so ist es mir unmöglich, zu wissen, ob sie existieren oder nicht, noch, was ihre Gestalt sei. Die Kräfte, die mich hindern, es zu wissen, sind zahlreich, und auch die Frage

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