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Herrndorf, Wolfgang - Sand

Herrndorf, Wolfgang - Sand

Titel: Herrndorf, Wolfgang - Sand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Troll Trollson
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Vorvergangenheit, oben das männliche, nein, oben das weibliche Prinzip, darunter der Vater. Als nächste Paarung Kindheit und Jugend, die eigene und die fremde Perspektive, Umwelt und Selbst, Hoffnungen und Wünsche, zukünftige körperliche und geistige Entwicklung. Und die einsame Karte auf der Armlehne? Konnte eigentlich nur die neuralgische Verbindung von allem sein, der Ist-Zustand des Ich, der Nexus … die Ausgangsfrage.
    Lange hielt Michelle den Stapel der restlichen Karten in ihrem Schoß. Sie presste den Rücken fest gegen die Lehne und ließ die Anordnung auf sich wirken wie ein Künstler, der einen Schritt von seinem Werk zurücktritt. Schön war es. Aber würde es auch seinen Zweck erfüllen? Sie beschloss, als Erstes, als Funktionsprüfung sozusagen, die Frage nach der Boeing 727 zu stellen.
    Bis auf eine kleine Irritation am rechten Rand war das Ergebnis sehr beruhigend. Das Flugzeug war von der Firma Boeing unter Einhaltung aller Vorschriften für den Flugzeugbau und unter Aufbietung höchster Ingenieurskunst entwickelt und gebaut worden, es hatte eine sehr beachtliche Anzahl störungsfreier Flugstunden hinter sich, fast ebenso viele noch vor sich, und in der Mitte, quasi als Pilot, lag auf der Armlehne zwischen den Sitzen – der Herrscher. Günstiger konnte eine Prognose für einen Atlantikflug nicht ausfallen. Die Irritation am rechten Rand deutete maximal auf eine kleine Reparatur in ferner Zukunft hin, vielleicht eine lose Schraube in einem nicht ganz so wichtigen Bereich des Flugzeugs. Vielleicht an der Außenhaut … oder noch wahrscheinlicher eine Schönheitsreparatur im Innenraum. Eine defekte Sitzlehne möglicherweise. Kein Grund zur Beunruhigung, teilte Michelle den anderen Passagieren kraft ihrer Gedanken mit. Sie sah sich um. Die meisten waren eingeschlafen oder hinter ihrer Zeitung vergraben.
    Als Nächstes legte sie die Karten für Helen aus, wozu sie den Hängenden Mann ins Deck zurückmischte, der jedoch nicht auftauchte. Auch hier lieferte das Schema gute Ergebnisse. Mit besten Anlagen ausgestattet entwickelte Helen Gliese schon in frühester Jugend ihren ambivalenten Charakter. Zwischen Narr und Teufel blickte die Fratze ihres verletzenden Zynismus heraus. Härte, Kälte, Entschlossenheit. Eigenschaften, die die meisten Männer irritierenderweise nie abstießen, sondern geradezu anzuziehen schienen.
    Michelle suchte nach Anzeichen für einen neuen Lebensgefährten mit arabischen Wurzeln, konnte ihn aber zu ihrer eigenen Erleichterung nirgends entdecken. Nicht dass sie Carl ihrer Freundin nicht gegönnt hätte, aber diese Verbindung stand unter keinem guten Stern. Das war deutlich zu spüren. Auf der Armlehne erneut die Hohepriesterin, und zur rechten Seite hin wagte Michelle kaum zu sehen: Dort lagen alle sechs Karten kopfüber.
    Grunzend erwachte der dicke Mann, warf einen Blick auf das Durcheinander auf seinem Tischchen und sackte wieder in sich zusammen. Nun legte Michelle für sich selbst die Karten aus, dann für Edgar Fowler. Dann für ihre Mutter, für ihren verstorbenen Vater. Für Sharon, für Jimi, Janis und zuletzt, als sie sich schon mitten über dem Atlantik befanden, auch für Richard Nixon. Alles, was dabei herauskam, war so ungeheuer treffend, viel treffender noch als für gewöhnlich die Aussagen des Keltischen Kreuzes. Michelle geriet darüber in einen solchen Enthusiasmus, dass sie fast zum zweiten Mal ihren Sitznachbarn geweckt hätte. Sie brauchte unbedingt jemanden zum Sprechen. In ihrer Vorstellung sah sie Medienvertreter auf sich zukommen. Sie gab Interviews. Fachzeitschriften in Amerika rissen sich um sie. Ein junger Mann mit kohlenschwarzen Augen, weich in die Stirn fallenden, braunen Haaren und randloser Brille, das Aufnahmegerät an einem Lederriemen über seiner muskulösen Schulter, der Gesichtsausdruck voll schmerzlicher Anteilnahme. Wie bei den meisten anderen Interviews, die Michelle bereits gegeben hatte, galt auch seine erste Frage den großen Leiden, die ihr Leben für immer gezeichnet hatten, damals in der Sahara. Doch mit geschlossenen Augen und kopfschüttelnd gab Michelle zu verstehen, dass sie darüber zu sprechen nicht willens oder imstande war. Selbst nach so langer Zeit nicht. Es saß zu tief.
    «Dann, Miss Vanderbilt, mal zu der Frage, die für unsere Leser wahrscheinlich die aufregendste ist. Wie kommt man – oder anders ausgedrückt – welche Umstände waren es, die zu der Entdeckung des Sechser-Systems geführt haben, das in der

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