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Herrndorf, Wolfgang - Sand

Herrndorf, Wolfgang - Sand

Titel: Herrndorf, Wolfgang - Sand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Troll Trollson
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westlichen Welt bei den meisten Insidern heute das Keltische Kreuz mit seinen Schwächen in der Kongruenzdeutung fast verdrängt hat?»
    Sie dachte lange nach, richtete ihren Blick auf die Belüftungsdüsen über sich und korrigierte schließlich den sympathischen jungen Mann. Auch wenn es heute von fast allen das Sechser-System genannt werde, heiße es doch eigentlich 727-System. Zwar sagten viele auch Vanderbilt-System dazu oder, der Einfachheit halber, V-System, doch sie selbst als Entdeckerin bevorzuge diesen Ausdruck, denn das sei der ursprüngliche Name. Wenn auch die Kartenverteilung im Grunde genommen 6-1-6 sei. Aber man habe hier sowohl das Flugzeug als Entdeckungsort als auch das Legesystem plus eins, also plus eins wegen der höheren Kräfte, die in hoher Höhe, symbolisch gesprochen, hinzuwirkten, mitzudenken, folglich 7-2-7 … und ein kalter Schauer lief Michelle über den Rücken, als sie sich plötzlich erinnerte, dass 616 im Codex Ephraemi auch der Name des Tieres war. In der Bibel fälschlicherweise mit 666 wiedergegeben, doch ältere Schriften und Palimpseste zeigten die ursprüngliche Zahl, die für die Unwissenden verschleiert und von den Mächtigen umgelogen wurde in die vergleichsweise harmlosere Sechs. Ihr schwindelte. Da war es wieder, das Numinose, das sich wie von selbst aus den Tiefen herauf seinen Weg bahnte und offenbarte, wenn man nur ein wenig offen war für Phänomene dieser Art. Michelle war über die Beantwortung der ersten Interviewfrage noch nicht wirklich hinaus, als die Stewardess bereits das Hauptmenü servierte.
    Abstoßende kleine Plastikschälchen, mit Plastik umwickelt, auf Plastiktabletts. Der Dicke machte beim Essen Bemerkungen so weltlicher Art, dass Michelle ihm nicht zu folgen vermochte. Minuten später war er wieder eingeschlafen, und ihr Blick fiel auf eine lose Schraube rechts unten an ihrem Sitz. Sie lächelte. Sie war nicht einmal erstaunt.
    Sie betrachtete die Sonne mit ihren acht gelben und roten flackernden Armen, und später bot sie auch einmal dem Dicken an, ihm kostenlos die Karten zu legen. Da war er schon seit einiger Zeit wieder erwacht und verfolgte, ohne seine Schlafhaltung im Geringsten verändert zu haben, mit zusammengekniffenen Augen das Treiben auf beiden Tischchen.
    «Was ist das?», brummte er, und Michelle erklärte es ihm mit der Gelassenheit einer Person, die allein fünf ihrer Lieblingskarten in ihrer Zukunft hatte. Sofort hob er abwehrend die Hände.
    «Das kann ich verstehen», rief Michelle. «Den meisten Menschen macht es Angst, etwas über sich zu erfahren. Weil sie Angst haben, der Erkenntnis nicht gewachsen zu sein. Dass es zu tief ist für sie.»
    «Was?»
    «Das Leben», sagte Michelle. «Die Vergangenheit. Die Zukunft. Der Zusammenhang.»
    «Sie interessieren sich für meine Zukunft? Da interessieren Sie sich für mehr als ich.»
    Dieser letzte Satz schien Michelle dunkel und unverständlich, sie verstand ihn nicht sogleich, und der Mann fuhr fort: «Meine Zukunft kenn ich schon. Da müssen Sie mir nichts erzählen. Meine Zukunft ist wie meine Vergangenheit, und meine Vergangenheit ist ein Haufen Mist. Sehen Sie das hier?» Er zog seinen Hemdkragen herunter und entblößte ein paar dünne Schrammen am Hals und weiter unten.
    «Haben Sie Urlaub gemacht?», fragte Michelle vorsichtig –
    «Urlaub! Soll ich Ihnen mal erzählen, was mir passiert ist bei diesen Kaffern?», und Michelles Kopfschütteln ignorierend begann er die Geschichte seines Afrika-Aufenthaltes zu erzählen. Michelle versuchte, ihre Mimik unter Kontrolle zu halten. Waren seine Schilderungen anfangs noch leidlich konsistent und einigermaßen erheiternd, wurden sie doch rasch widerlich, ja geradezu kriminell. Nur aus Wohlerzogenheit wagte sie seinen Redefluss nicht andauernd zu unterbrechen.
    «Also das billigste Zimmer», sagte er und beschrieb ausführlich sein Zimmer und sein Hotel, die verstopfte Toilette, das schlechte Essen, den Strandurlaub, das Klima und die Nächte in den Bars, sehr viele Nächte und sehr viele Bars und aus einem Grund, den Michelle nicht wirklich nachvollziehen konnte, immer wieder die Frauen in diesen Bars. Aber das sei ja alles ganz egal, sagte er selbst, und er sei nun einmal Kfz-Mechaniker aus Iowa und seine Vorfahren eingewandert aus Polen, Polen, jawohl, und er sei doch ein solider Mann – Hand aufs Herz –, solide sei sein zweiter Vorname. Zwar verdiene er nicht viel, und dies wäre sein erster Urlaub überhaupt, aber garantiert auch

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