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Herrndorf, Wolfgang - Sand

Herrndorf, Wolfgang - Sand

Titel: Herrndorf, Wolfgang - Sand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Troll Trollson
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noch vor uns liegt.
    Ulla Berkewicz
     
    Das Keltische Kreuz funktionierte nicht. Und zwar aus dem einfachen Grund, dass das Klapptischchen an der Lehne des Vordersitzes viel zu klein war. Darauf hatten maximal sechs Karten Platz, wenn man sie als Rechteck anordnete. Schon während Michelle mit konzentriertem Schlucken, Augenschließen und dem Abruf verschiedener Kindheitserinnerungen die Startphase des Düsenflugzeugs überstand, war ihr der Gedanke gekommen, die Karten weiter hinten auf dem Teppichboden der 727 auszubreiten. Aber die Maschine war noch keine Viertelstunde in der Luft, als Geschäftsleute in Zweireihern, Touristen in Bequemhosen und Mütter mit kleinen Kindern begannen, den Gang zur Toilette zu blockieren. Hätte sie dort das Kreuz ausgelegt, hätte sie alle diese Leute um Verzeihung bitten, ihr Tun rechtfertigen, Anfängerfragen beantworten und Interesse oder Verständnislosigkeit ertragen müssen. Ed Fowler hätte das gekonnt. Und wäre Ed bei ihr gewesen, hätte Michelle sich stark genug gefühlt, es auch zu können. Aber an manchen Tagen – und dies war ein solcher Tag – beunruhigte sie schon der Blick in das Gesicht eines Fremden.
    Mit dem Handballen rieb sie den Tisch vor sich sauber. Sie ignorierte den dicken, schnaufenden Mann links neben sich und sah nicht einmal aus dem Fenster hinaus auf die weißen Wolken, unter denen ein Abgrund gähnte. Sie schloss allerdings auch nicht die Jalousie, um den Energiefluss nicht zu stören. Sie konzentrierte sich ganz auf das Tischchen. Zwei mal drei Karten, mehr Platz war nicht. Da hätte man zur Not das Kleine Kreuz machen können, aber Michelle hatte keine guten Erfahrungen mit kleinen Legesystemen gemacht. Kleine Systeme – für kleine Probleme. Bei großen Ausgangsfragen brauchte man mehr als vier Karten, sonst wurde das Ergebnis leicht schematisch. In der Kommune hatte sich für alle wichtigen Entscheidungen eine Erweiterung des Keltischen Kreuzes mit dreizehn Karten durchgesetzt, die sich hier unmöglich improvisieren ließ, selbst wenn Michelle die Armstützen, ihre Oberschenkel und das kleine Stück Sitzfläche zwischen ihren Beinen zu Hilfe nähme. Sie klappte den wackligen Speisetisch hoch und wieder runter. Ein kleineres Blatt, eine Art Reisetarot, dachte sie, hätte hier Abhilfe geschaffen. Vielleicht streichholzschachtelgroße Karten, fotomechanische Verkleinerungen ihrer Stiche. Mit ein wenig kaufmännischem Talent könnte man daraus wahrscheinlich einen Verkaufsschlager machen und reich werden. Man könnte die Spiele an Bahnhöfen und Busbahnhöfen anbieten, auf Schiffen, Flughäfen oder in Dutyfree-Shops, überall, wo beengte Verhältnisse herrschten. Oder die Fluggesellschaften gleich direkt beliefern! Dann würden die Karten schon beim Einsteigen mit Zeitungen, Obst und Erfrischungstüchern zusammen an aufgeschlossene Passagiere gereicht. Ungeübten könnte die Stewardess nach ihrer Verhalten-im-Notfall-Choreographie mit gleicher Anmut das Keltische Kreuz demonstrieren. Michelle schloss die Augen und sah sich selbst in einer hellblauen Uniform die Bewegungen machen. Als der Wagen mit den Speisen und Getränken an ihr vorüberrumpelte, bestellte sie einen Kaffee. Der dicke Mann neben ihr nahm zwei Whisky, trank sie auf ex, warf Michelle einen Blick zu und versank erneut schnaufend im Halbschlaf. Ein Speichelfaden pendelte aus seinem leicht geöffneten Mund.
    Das Bedürfnis, etwas über die Zukunft zu erfahren, wurde immer größer in Michelle. Und wenn sie doch das Kleine Kreuz machte? Sie sah sich um. Die meisten Passagiere waren mit ihren Zeitungen und Büchern beschäftigt. Hinten sammelte eine Stewardess die leeren Plastikbecher in einen Müllsack. In diesem Moment hatte Michelle eine Eingebung.
    Sie drückte ihr Rückgrat durch, ordnete ihre Haare und rüttelte dann entschieden den Sitznachbarn wach, dessen dicker Kopf fast auf ihre Schulter gesunken war. Ob er etwas dagegen habe, wenn sie sein Tischchen mitbenutze? Entgeistert sah der Mann sie an. Der Speichelfaden schlackerte aufs Kinn. Dann warf er sich unwillig grunzend auf die andere Seite.
    Als Michelle sicher war, dass er wieder schlief, legte sie vorsichtig sechs Karten auf seinen Tisch und sechs auf ihren eigenen. Sie dachte eine Weile nach und platzierte noch eine Karte auf die Armlehne zwischen den Sitzen. Ihre Augenlider flatterten leicht. Wie war dieses neue Muster zu deuten?
    Die beiden Karten ganz links waren deutlich erkennbar die Tiefenschichten, die

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