Herrndorf, Wolfgang - Sand
sein letzter in diesem entsetzlichen Europa.
«Afrika», sagte Michelle.
«Afrika», sagte der Dicke, «eins wie das andere.» Ein Missverständnis. Denn warum käme ein Mann hierher?
Weil man ihm erzählt habe, dass hier – und er zeigte auf den Boden des Flugzeugs – Alte Welt und Neue Welt zusammenträfen. Die Frauen hübsch, die Sitten locker, die Feste bizarr. Und die Hauptsache, wie dieser österreichische Nervenarzt richtig herausgefunden habe, sei doch – und jetzt nannte er ein Wort, das Michelle noch nie gehört hatte und das auf -ismus oder -asmus endete. Sie wollte nachfragen, zögerte jedoch und glaubte schon beim nächsten Satz, sich verhört zu haben, denn der Dicke kam vom -ismus direkt zu der Feststellung, dass von wegstecken hier nicht die Rede gewesen sein könne. Eine einzige fade Fickfackerei sei es gewesen und – padamm!
Dreizehn Karten flogen gleichzeitig hoch wie ein aufgeschreckter Vogelschwarm. Im ersten Moment haschte Michelle danach, bevor ihre Hände sich nach einem solideren Halt ausstreckten, und noch während ihr Körper im Sitz herumgeschleudert wurde, war sie weniger erschrocken über das Rucken des Flugzeugs, von dessen ordnungsgemäßem Zustand sie sich ja bereits überzeugt hatte, als von der Tatsache, dass sie auf einmal beide Arme um den dicken, schwitzenden Mann geschlungen hatte und aus Leibeskräften kreischte.
«Ein Schlagloch», meldete der betrunken klingende Pilot sich per Lautsprecher. «Wir durchfliegen ein Gebiet mit Tänzen.»
«Tänzen», sagte der Dicke, als habe er überhaupt nicht bemerkt, dass eine junge, hochattraktive Frau an seinem Hals hing wie an der letzten Rettung. Er half ihr, die Karten aufzuheben, sie entschuldigte sich, und ohne erkennbare Veränderung in der Stimme fuhr er mit seiner Geschichte fort. Unsummen, sagte er, Unsummen habe das alles verschlungen, und selbst die Afrikanerinnen in den Bars, selbst die kleinsten, selbst die schwärzesten … sie wisse, worauf er hinauswolle. Stattdessen Gestank, Insekten, Hitze. Und das Hauptproblem wie immer das Geld. Denn was sei teurer als eine Frau? Michelle wusste es nicht. Zwei Frauen, genau. Und dann habe der Zufall und plötzlich.
Er hustete bellend, hielt sich eine Serviette vor den Mund und betrachtete den dunkelgelben Auswurf wie ein Kind sein Spielzeug.
«Ich höre gerne Ihre Geschichte», sagte Michelle, die sich immer noch nicht ganz sicher war, wovon diese eigentlich handelte, aber des Mannes Beschäftigung mit dem Auswurf noch unappetitlicher fand als alles, was er hätte erzählen können.
Er zog sehr geräuschvoll auf, steckte das Taschentuch in den Spalt zwischen den beiden Sitzen und stieß es mit der flachen Hand tiefer hinein.
Jedenfalls, sagte er, sei dann plötzlich dieser Mann auf ihn zugekommen. Der wie ein Einheimischer gewirkt habe. Oder so halb und halb. Aber albern angezogen, fast wie ein Clown. Und ihn gebeten habe, ihn in sein Haus zu begleiten.
«Nicht, was Sie denken!», rief er und schob seinen Kopf ganz nah an Michelles verständnisloses Gesicht heran.
In Wahrheit habe der Mann nur einen Dolmetscher gesucht. Zu diesem Zweck sei er unter den am Strand Liegenden herumgegangen, wer denn Polnisch verstehe. Und auch wenn er Polnisch nicht wirklich verstehe, habe er sich gemeldet. Immerhin seien doch seine Großeltern. Und man solle sein Erbe nicht. Und er habe als Kind. Hier könne man über Sprachen und Sprachtalent sicher einiges sagen. Jedenfalls sei er eher praktisch veranlagt, wie die ganze Familie – und jetzt habe er den Faden verloren.
«Der Mann», sagte Michelle, «der Mann mit dem Haus.»
Genau, der Mann mit dem Haus. Und den rosa Bermudas. In das Haus seien sie dann hineingegangen, und da habe mitten im Zimmer eine Maschine gestanden. Eine chromblitzende Maschine, in der er, auch ohne Polnisch zu können, sofort eine Espressomaschine erkannt habe. Riesengroß, wie Kantinen sie benutzen. Oder Bars. Polnische Schriftzeichen. Also nichts Besonderes. Nur teuer. Und jetzt werde es mysteriös.
Das Wort mysteriös übte seine zuverlässige Wirkung auf Michelle aus, und sie versuchte, sich schräg hinzusetzen und ein Bein über das andere zu schlagen, was auch bei hochgeklapptem Tischchen kaum möglich war. Der Dicke stand auf, weil er dachte, sie wolle zur Toilette, und sie brauchten einen Moment, um das Missverständnis zu klären.
«Und dann», sagte der Dicke, «war er auf einmal weg.» Nämlich der Mann. Der nur habe wissen wollen, was das für eine
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