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Herrndorf, Wolfgang - Sand

Herrndorf, Wolfgang - Sand

Titel: Herrndorf, Wolfgang - Sand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Troll Trollson
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es mir tut, wir sind die Guten in dieser Sache. Und du bist es nicht. Ob du das weißt oder nicht. Aber du hast deine Hände dadrin, und du hast etwas, was uns gehört. Was wir entdeckt haben. Unsere Wissenschaftler. Und deshalb sind wir die Guten: Wir haben die Bombe gebaut und Schreckliches damit angerichtet. Aber wir haben daraus gelernt. Wir sind das lernfähige System. Hiroshima hat den Krieg verkürzt, über Nagasaki kann man streiten – aber ein drittes Mal passiert das jetzt nicht. Wir werden verhindern, dass es ein drittes Mal passiert. Die Bombe in unseren Händen ist nichts weiter als ein ethisches Prinzip. Dieselbe Bombe in euren Händen, und wir steuern auf eine Katastrophe zu, mit der verglichen alles andere nur ein leichter Kopfschmerz war. Und warum sage ich dir das alles? Ich sage das nicht, weil ich denke, dass ich dich überzeugen kann. Ich sage das nicht, weil ich denke, dass du Vernunftgründen zugänglich bist. Wenn du Vernunftgründen zugänglich wärst, wärst du nicht hier. Ich sage das, weil ich dir klarmachen will, wo wir stehen.»
    Sie öffnete den obersten Knopf an ihrer Bluse, wischte mit zwei Fingern Schweiß von ihrem Schlüsselbein und zündete sich die nächste Zigarette an.

    IM TIEFSTEN GRUND
     
    Sie kamen dort dann heran an den Kiterfluss, an den Blutfluss; für sie sollte es der Ort der Niederlage sein, wo das Herz von Xibalba ist. Nicht einmal waren sie es, die ihn durchschritten, nur auf dem Rücken der Blasrohre setzten sie über.
    Popol Vuh
     
    Die Ziege war verschwunden, das lose Ende der Kette lag am Ufer. Die Schatten der Felsformationen, die Carl noch in Erinnerung waren, schwankten im Licht. Mit hochgekrempelten Hosen zog der Syrer ihn hinter sich her bis in die Mitte des Schlammtümpels. Er fischte die Kette auf und band sie ihm mit einem Schloss um den Hals. «Das ist zu lang», sagte jemand, und der Syrer drückte Carls Nacken hinunter, bis das Gesicht fast das Wasser berührte, öffnete das Schloss und band die Kette erneut fest. Cockcroft, Helen, der Bassist und die Karbidlampe schauten vom Ufer aus zu.
    Sie ermunterten ihn zu sprechen. Er schwieg.
    Cockcroft ging in die Hocke, schaute Carl lange in die Augen und sagte: «Keine Idee ist so groß, dass es sich dafür zu sterben lohnt. Wir sind bisher offen zu Ihnen gewesen, und ich werde auch jetzt offen zu Ihnen sein. Existentielle Verzweiflung, das ist das vordringliche Ziel unserer Maßnahme. Sie in einen Zustand existentieller Verzweiflung zu versetzen. Und es gibt verschiedene Theorien dazu. Bis vor kurzem orientierte man sich noch an der nach Hanns Scharff benannten Annahme, zu tiefe Verzweiflung sei der Wahrheitsfindung nicht dienlich oder begünstige die Konfabulation. Diese Annahme hat sich aber nicht halten lassen, und wir nennen sie heute Käse. Andere Stimmen, und durchaus ernstzunehmende Stimmen, wiederum haben behauptet, es seien gerade die Verstockten, und hier insbesondere die Anal-Retentiven, die durch ein Übermaß an Verzweiflung noch verstockter und schließlich vollkommen versteinert würden. Aber auch dies ist widerlegt. Tiefe, existentielle Verzweiflung ist, und das ist der aktuelle Stand der Wissenschaft, der Königsweg zu …» Und so weiter und so weiter.
    Carl hatte längst den Faden verloren. Es war alles Gewäsch, das hundertste Zeigen der Instrumente. Er tastete mit der Hand an der Kette hinunter, die tief im Schlamm mit einer Eisenstange ins Gestein getrieben war, und schloss die Augen.
    «Bis morgen», sagte jemand. Helen. Und das war offenbar das Schlusswort gewesen. Denn mit Schritten und Stimmen zusammen schwankte das Licht nun davon, und Carl blieb allein zurück in der Finsternis. Im knietiefen Wasser herumrutschend suchte er nach einer stabilen Position. Die Länge der Kette zwischen Wasseroberfläche und Hals betrug keine fünfzehn Zentimeter. Sie war so kurz, dass er sich nicht auf den durchgestreckten Arm stützen konnte, und wenn er sich auf den Ellenbogen stützte, stand ihm das Wasser bis zum Kinn. Er versuchte ruhig zu bleiben. Er schrie.
    Er stützte sich links ab, bis die Muskulatur verspannt war, dann stützte er sich rechts ab, bis die Muskulatur verspannt war. Dann wiegte er sich hin und her, bis die Kräfte schwanden. Die Kräfte schwanden rasch, und er wusste, dass er keine Stunde lang würde durchhalten können. Aber nach einer Stunde war er immer noch am Leben und wiegte sich hin und her.
    Hatte er anfangs fünf oder zehn Minuten ausharren können, bevor er den

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