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Herrndorf, Wolfgang - Sand

Herrndorf, Wolfgang - Sand

Titel: Herrndorf, Wolfgang - Sand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Troll Trollson
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Sätze einzubauen, und als er gerade zum fünften oder sechsten Mal vergeblich mit hängender Zunge dem gelben Blazer hinterherrannte, fügte er noch ein Detail hinzu, das er bisher ausgelassen hatte: das Ouz. Wie es da plötzlich in der Abenddämmerung auf der Düne gestanden und ihn gebissen hatte, mit der Papierkrone auf dem Kopf, und wie er dabei fast schon einmal unter den allerlächerlichsten Umständen die Kapseln im Sand verloren hatte … als könne die Unwahrscheinlichkeit dieses Ereignisses die Unwahrscheinlichkeit des späteren Verlusts erklären. Ein mathematisches Gesetz, ein kosmischer Zufall. Er flehte sie an, sich die Bisswunde an seinem Handgelenk anzusehen, und Helen stand auf und ging mit hinter dem Nacken gefalteten Händen einmal um Carls Stuhl herum.
    «Wer hat dich ausgebildet?», fragte sie kaum hörbar, als sie hinter ihm war, und «Ist das alles, was du mir sagen willst?», nachdem sie erneut auf der Holzkiste Platz genommen hatte. «Nationalstolz, Idealismus, religiöses Dogma, der ganze Tand und Flitter, mit dem der geistig Unterbelichtete sein Weltbild möbliert und der im Erwachsenenalter erfahrungsgemäß so schwer abzuwerfen ist – ich weiß nicht, was dich reitet. Aber du solltest dir das noch einmal überlegen. Wenn ich sagte, ich stelle dir diese Fragen noch einmal, dann meinte ich das auch so. Und wenn ich außerdem sagte, es sei eine Kleinigkeit, sollte das nicht heißen, es ist nicht wichtig für uns. Es ist sehr wichtig.»
    «Wichtiger als ein Menschenleben?», raffte Carl sich auf.
    «Du redest jetzt von dir? Nichts ist wichtiger als ein Menschenleben.» Helen fuhr mit dem Zeigefinger an Carls bekleckertem Pullover herunter. «Auch wenn es das Leben eines Lügners ist. Das Leben eines Schmugglers. Eines Idioten und Berufsverbrechers. Jedes Leben ist unbezahlbar, einzigartig und schützenswert. Sagt der Jurist. Das Problem ist, wir sind keine Juristen. Wir stehen nicht auf dem Standpunkt, dass man das Leben nicht gegen andere Güter oder andere Leben abwägen kann. Wir sind eher so die Statistikabteilung, und Statistikabteilung bedeutet: Es besteht eine vielleicht einprozentige Wahrscheinlichkeit, dass es so ist, wie du sagst. Dass du nicht weißt, wer du bist. Dass du zufällig zur falschen Zeit am falschen Ort warst, und das gleich mehrfach. Schulkinder, Leichen mit Drahtschlingen in der Wüste und Ausweise in der Tasche und was nicht alles. Kann alles sein. Es besteht aber auch eine neunundneunzigprozentige Wahrscheinlichkeit, dass das nicht der Fall ist. Sondern Quatsch. Dass hier ein Mann die Finger ausgestreckt hat nach etwas, was ihm nicht gehört. Und dass er es auch nicht verloren, sondern weitergegeben hat. Oder gebunkert. Neunundneunzig Prozent. Neunundneunzig Prozent, dass wir hier den Weltfrieden sichern. Neunundneunzig Prozent, dass unsere kleine Untersuchung einem friedlichen Zusammenleben ohne Atomwaffen dient. Neunundneunzig Prozent für das Fortbestehen des Staates Israel, für glückliche Kinder, grasende Kühe und den ganzen anderen Scheiß. Neunundneunzig Prozent, dass es hier nicht um ein Menschenleben geht, sondern um Millionen. Neunundneunzig Prozent für die Sache von Aufklärung und Humanismus und nur ein Prozent, dass unser peinliches Verhör einen Rückfall ins Mittelalter darstellt. Mal ehrlich», sagte Helen, hob sanft sein Kinn mit zwei Fingern an und sah ihm in die Augen. «Hundert zu eins. Oder eine Million zu eins. Wie werden wir jetzt weiter vorgehen? Was denkst du? Ich kann dir einen Tipp geben. Die Statistikabteilung agiert traditionell leidenschaftslos.»
    «Du kennst mich. Du hast mich erlebt.»
    «Du kennst dich ja nicht mal selbst. Sagst du.»
    «Aber warum hätte ich dir das alles erzählen sollen, was ich dir erzählt hab?»
    «Weil du dumm bist?», sagte Helen. «Weil du bis zuletzt keine Ahnung hattest, zu wem du ins Auto gestiegen bist? Weil du dachtest, die blonde, kaugummikauende Frau würde dir noch einmal sehr weiterhelfen? Wir wissen ja nicht mal, ob es diese Kapseln überhaupt gibt. Oder in welcher Form –»
    «Du weißt es», sagte Carl. «Du weißt, dass ich nichts weiß.»
    «Ich weiß es, wenn wir hier zu Ende sind. Wenn wir hier zu Ende sind und alle unsere schönen Geräte ausprobiert haben, dann werde ich es wissen. Dann glaube ich dir und entschuldige mich – mit einer Wahrscheinlichkeit von einem Prozent. Aber du kannst mir auch glauben: Wenn wir hier zu Ende sind, hast du alles gesagt, was du weißt. Denn so leid

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