Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Herrndorf, Wolfgang - Sand

Herrndorf, Wolfgang - Sand

Titel: Herrndorf, Wolfgang - Sand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Troll Trollson
Vom Netzwerk:
an die ersten Wochen ihrer Freundschaft blieb in Jeans Kopf aus guten Gründen nicht mehr als eine sehr farbenprächtige und zugleich nebelhafte Erinnerung zurück. Gemeinsam bewohnten sie ein winziges Zimmerchen mit Meerblick (Jeans Erinnerung) bzw. Blick über Müllberge (Fowlers Erinnerung), sie begeisterten sich für italienische Filme über die sexuelle Ausbeutung der Frau durch die Gesellschaft, hantierten mit einem Chemiebaukasten für Kinder herum und lasen immer obskurere Schriftsteller, bis sie schließlich (und das Wie und Warum dieses Unternehmens liegt ebenfalls im Dunkel) auf die Idee kamen, eine Kommune in der Wüste zu gründen, die sich durch Gemüseanbau selbst finanzieren sollte.
    Fowler lieferte die ideologische Generalausrichtung für das Projekt und rekrutierte im Handumdrehen eine beachtliche Zahl überaus ansehnlicher junger Frauen, während Jean im Wesentlichen die Idee mit der Landwirtschaft beisteuerte.
    Als Kind der Großstadt hatte er nicht die geringste Ahnung von dem, was er zu dieser Zeit noch das Wunder des Lebens nannte, aber seine Begeisterung wirkte ansteckend. Barfuß und mit einer gelben Plastikgießkanne in der Hand sah man ihn des Morgens um bläulich-grüne Hirsekeime herumtanzen, die den harten Wüstenboden durchbrachen, und Vorträge halten über das unvergleichliche Gefühl, im Schweiße seines Angesichts die Scholle zu beackern und gerechten Lohn mit Gleichgesinnten solidarisch zu teilen. Es war Jeans überbordender, mitunter verzweifelter Enthusiasmus, der die Gemeinschaft anfangs zusammenschweißte, und es war auch Jean, der als Erster das Interesse am Gemüse wieder verlor.
    Die unerträgliche Sonne über dem Kaafaahi-Felsen und der noch unerträglichere Sand! Das kleinkarierte Einpflanzen von Pflanzenkeimen, die einfach nicht wachsen wollten und mit unendlich mühsam herbeigeschlepptem Wasser besprenkelt werden mussten! Das entsprach nicht seinen Vorstellungen vom wilden Leben.
    Es kam zu ersten Unstimmigkeiten mit den mittlerweile acht anderen Mitgliedern der Kommune, und schon nach wenigen Wochen war Jean das erste Mitglied, das wegen ideologischer Differenzen und nach endlosen Diskussionen über die Ausübung der freien und in seinen Augen überhaupt nicht freien Sexualität unter in Anführungszeichen erwachsenen Menschen aus der Kommune wieder ausgeschlossen werden musste, von seinem Freund Edgar Fowler persönlich exkommuniziert. Das war im Jahr 1966.
    Zurück in Targat lief das alte Geschäft mit dem Trödel nur noch schleppend. Jean hatte Konkurrenz bekommen, am Strand hauste plötzlich ein Dutzend Langhaariger. Er war gezwungen, auf Opium umzustellen; drei Viertel seines Verdienstes kassierte nun die Polizei. Er konnte sich kein Zimmer mehr leisten. Er verwahrloste. Nach Dien Bien Phu war dies das schrecklichste Jahr. Er trug sich bereits mit dem Gedanken, nach Frankreich zurückzukehren, als eines schönen Tages ein mittelloser Amerikaner auf ihn zukam und seine Tagesration gegen ein Surfbrett einzutauschen versuchte.
    So etwas wie dieses Brett hatte Jean noch nie gesehen. Die gedankenvolle Form, die blendende Weiße. Noch am Abend desselben Tages paddelte er bäuchlings aufs offene Meer hinaus. Ihn begeisterte die neue Perspektive, die Freiheit, die Meditation der Wellen. Er schloss die Augen, und als er sie wieder öffnete und schwarze Wolken am Horizont sah, beunruhigte ihn das nicht. Als der Wind umschlug und in einen Sturm überging, beunruhigte ihn das nicht. Als die Grundsee die Wellen aufstellte und es ihn vom Brett fegte, fand er das einige Sekunden lang ungeheuer komisch. Dann begann sein Kampf ums Überleben. Er hatte die Orientierung sofort verloren. Unter Wasser wirbelte er über die Felsen dahin und schnappte in tosender Gischt nach Luft. Schließlich warf ihn ein Brecher an Land.
    In seinem vollkommen zugerauchten Hirn übertrieb er die Gefahr, in der er sich befunden hatte, maßlos, und noch während er röchelnd und hustend am Strand lag und zusah, wie das Wasser hinter ihm auch sein Brett wieder ausspuckte, es zurücklutschte und abermals ausspuckte, verdichtete der Moment sich in ihm zu einer Kugel von strahlender Helligkeit. Dies war kein Kampf gegen hinterlistige Reisfresser mehr, dies war keine Intrige einer läppischen Gemüsekommune, dies war die Allgewalt der allgewaltigen Natur, ein Augenblick großer Entschiedenheit. Das Meer hatte ihm gezeigt, wozu es imstande war, und er, Jean Bekurtz, hatte dem Meer gezeigt, dass er das

Weitere Kostenlose Bücher