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Herrndorf, Wolfgang - Sand

Herrndorf, Wolfgang - Sand

Titel: Herrndorf, Wolfgang - Sand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Troll Trollson
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akzeptieren konnte. Der schmale Grat, das große Licht. Der quer über den Himmel geschriebene Satz: Du musst dein Leben ändern. Und er änderte es.
    Jeden Tag, wenn die Brandung hochging, paddelte er nun hinaus. Er brauchte etwa zwei Wochen, bis es ihm gelang, sich zum ersten Mal auf dem Brett aufzurichten und einige Meter auf einer Welle hinabzugleiten, und in den folgenden Jahren konnte jeder, der am Strand von Targat Urlaub machte, ihn bei Wind und Wetter auf einem Brett im Meer stehen sehen, die Arme seitlich an den Körper gepresst, auf dem Rücken oder vor der Brust verschränkt. Gelegentlich sang er dabei. Jean hatte aufgehört zu rauchen, und er wurde so klar im Kopf, dass klar schon nicht mehr das richtige Wort dafür war. Braungebrannte Haut überspannte seine trainierten Muskeln, Salzwasser und Sonne bleichten die Haare.
    Fast drei Jahre lang ging das so, ohne dass er einen Moment des Zweifels erlebte. Er war der erste Wellenreiter, den diese Gestade zu sehen bekamen, und in Dutzenden europäischen und amerikanischen Fotoalben dieser Zeit dürfte es noch heute das Bild eines langhaarigen, apollinischen, zärtlichen jungen Mannes geben, der mit einem wahlweise juchzenden, verschreckten, großäugigen, vorlauten oder einfach nur entsetzten Zehnjährigen im strandnahen Wasser das Balancieren übt. Targat 1969.
    Doch so abrupt, wie dieses Leben begonnen hatte, so rasch endete es auch wieder. In der Pension, in der Jean logierte, war ein ausgemergelter Spanier mit zwei schweren Koffern abgestiegen. Dieser Spanier hatte eine Schiffspassage gebucht und war zu schwach, sein eigenes Gepäck zu tragen. Sein Unterkiefer war krebszerfressen, am Hals wuchsen Tumore, und sein Atem roch bereits wie aus einer anderen Welt. Wie er Jean anvertraute, wollte er zum Sterben zurück in die Heimat, für medizinische Behandlung sei es bereits zu spät.
    Lächelnd nahm Jean die Koffer unter einen Arm, das Surfbrett unter den anderen und trug alles zum Hafen hinunter. Zwischen den Gepäckstücken auf dem Pier sitzend, rauchend, während das Schiff am Horizont langsam an Größe gewann, erzählte dieser Spanier Jean sein Leben. Er sprach sehr leise und höflich, etwas zusammenhanglos und mit halbgeschlossenem Mund, als versuche er, nicht allzu viel Jenseits in diese Welt hinauszuatmen.
    Acht Jahre lang hatte er den Posten eines Lehrers im Salzviertel innegehabt, des einzigen Lehrers dort. Wobei Posten eine Übertreibung sei. Die Zentralverwaltung kümmere sich nicht, man arbeite praktisch für Gotteslohn. Mit sichtlicher Anstrengung schilderte er verschiedene Episoden seines Pädagogendaseins. Er wischte sich den Schweiß von Gesicht und Tumoren, zeigte mit ausgestrecktem Arm die Größe der Kinder an und fügte Platituden über neugierige Augen, unverdorbene Seelen und helles Kinderlachen hinzu. Genau genommen bestand die Pointe aller seiner Erzählungen in glockenhellem Kinderlachen. Wie er sie ausgebildet, wie er ihnen Hoffnung gegeben hatte. Wie sie ihn Monsieur Soundso genannt und seine Scherze mit ihrem Lachen vergolten hatten! Diese Dankbarkeit in schmutzumrandeten Augen. Nun bliebe ihre Ausbildung für immer unvollendet.
    Er ahmte die kleinen, traurigen Gesichter beim Abschied nach, hustete etwas Blut auf den Pier, und Jean hatte keine Mühe, die eigentliche Botschaft hinter der Botschaft zu erfassen. Leute wie er und der Spanier rochen einander auf zehn Meilen gegen den Wind. Er ließ sich von dem Todgeweihten die Lage der Schule und die näheren Umstände beschreiben, winkte zum Abschied noch einmal aufmunternd zum Schiff hin, und zwei Tage später hatte das Salzviertel einen neuen Lehrer.
    Eine pädagogische Ausbildung besaß Jean Bekurtz so wenig wie sein Vorgänger, aber Lesen, Schreiben und Rechnen konnte ja jeder.
    Der Klassenraum war ein lehmgestampftes Geviert ohne Fenster, Licht kam durch das mit Matten nur halb verhängte Dach. Tische und Stühle stammten aus den Anfangen der Kolonialzeit. Auf manchen waren noch Parolen aus dem Khan-Krieg eingeritzt. Wenn zu viele Schüler zum Unterricht erschienen, saßen sie auf mitgebrachten Kanistern oder standen einbeinig hinten an der Wand. Die Stirnseite des Raumes schmückte seit neuestem eine riesige Tafel in Form eines schwarz lackierten, an beiden Enden abgesägten Surfbretts.
    Und der Spanier hatte nicht übertrieben. Die Zahl der Schüler war unüberschaubar. Auch an Feiertagen kamen reizend verwahrloste und zutrauliche Jungen, um unterhalten zu werden, und Jean zog

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