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Herrndorf, Wolfgang - Sand

Herrndorf, Wolfgang - Sand

Titel: Herrndorf, Wolfgang - Sand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Troll Trollson
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sichtbar, über den er sich schleppte. Carl hob sich taumelnd auf die Füße. Die Eisenstange schlug an seinen Knien hin und her. Die Luft wurde besser, die Felsen bekamen Form und Farbe, und schließlich erblickte er in gar nicht so weiter Ferne einen von Steinzacken umrahmten Ausschnitt des Himmels.
    Mit einem blut- und schlammverkrusteten Arm schirmte er seine Augen gegen das blendende Licht. Auf dem schmalen Felsplateau mit der Hütte des Bergarbeiters blieb er stehen. Er atmete wie ein kleiner Vogel. Das Windrad drehte sich. Der Tag war eben angebrochen.
    Lange Minuten stand Carl einfach da und schaute hinaus in die tröstlich menschenleere Welt, eine Welt violetter Bergspitzen, in rosa und lila Dunst getauchter Täler, Schluchten voller purpurnem Schatten. Eine Fledermaus schoss an Carls Schulter vorbei und hinter ihm in den Stollen hinab. Da meinte er plötzlich, ein leises Pochen zu hören. Das Geräusch war so leise, dass er sich nicht sicher war, ob es aus der Richtung der Holzhütte oder aus seiner linken Schläfe kam.
    Im selben Moment meldeten sich die lebenswichtigen Fragen zurück: Wie komme ich an Trinkwasser? Wie an medizinische Versorgung? Und vor allem: Wie komme ich hier weg?
    Krachend flog die Tür der Hütte auf, knallte gegen einen Stein und schlug wieder zu. Im Innern tobte jemand. Die Tür öffnete sich erneut, und Hakim von den Bergen kam herausgehüpft, nackt bis auf eine zerschlissene Unterhose, die um seine Knie schlotterte. Er sah schrecklich aus. Seine Füße waren mit einem Hanfseil zusammengebunden. Exkremente an seinen Schenkeln festgetrocknet. Um die Handgelenke trug er dicke Fesseln, die Verbindung zwischen ihnen war durchgescheuert. Ungelenk hopste er in den Morgen hinaus, die Unterhose schlackerte auf die Knöchel hinab. Unterm Arm die Winchester. Er starrte Carl an. Er schrie.
    «Wir kennen uns», rief Carl und hob beschwichtigend die blutigen Hände.
    «Allerdings», sagte Hakim und lud das Gewehr durch. «Scheißamerikaner!»
    «Ich gehör nicht zu den andern! Ich bin keiner von denen!»
    «Natürlich nicht – und ich bin der König von Afrika.»
    «Ich hab dir nichts getan!»
    «Du hast mir nichts getan! Nein, nur deine Frau, der stinkende Haufen Kameldung!», brüllte der Alte, legte an und schoss Carl eine Kugel zwischen die Augen.
    Um Gleichgewicht bemüht, hüpfte er noch zweimal auf der Stelle, hopste dann in die Hütte zurück und machte sich von den Fußfesseln los. Gegen Mittag packte er seine Habseligkeiten, schleifte Carls Leiche in die Hütte, übergoss alles mit Benzin und warf ein brennendes Streichholz dazu. Dann stieg er mit seinem Bündel in die Ebenen hinab, Hakim III, der letzte der großen Bergarbeiter im Kangeeri-Massiv.

    DIE MADRASA DES SALZVIERTELS
     
    Tremblez, tyrans, et vous perfides L’opprobre de tous les partis,
    Tremblez! Vos projets parricides
    Vont enfin recevoir leurs prix!
    Tout est soldat pour vous combattre,
    S’ils tombent, nos jeunes heros,
    La terre en produit de nouveaux,
    Contre vous tout prets áse battre!
    La Marseillaise
     
    Die Arme seitlich vom Körper weggestreckt wie ein Gekreuzigter, mit einem blauen Plastikkanister in der einen und einem verrosteten Schraubenschlüssel in der anderen Hand stand Jean Bekurtz auf dem Dach des Schulgebäudes, schaute gen Osten und erwartete den Aufgang der Sonne.
    Jean war der Spross einer französischen Beamtenfamilie, der als junger Mann in Indochina gekämpft hatte und – wie seine Mutter dem Hausarzt der Familie anvertraute – nicht ohne leichten Schaden geblieben war.
    Nach der Enthebung General Navarres blieb Jean noch einige Zeit in Fernost und begann dann ein unstetes Wanderleben, das ihn an viele Orte der Welt, nur nicht zurück nach Frankreich führte. Um 1960 herum schließlich blieb er an der nordafrikanischen Küste hängen, ein erster Vorbote der Generation, die es als ihre Hauptaufgabe empfand, die Lebensweise ihrer Eltern in Frage zu stellen.
    Mit bescheidenem Gewinn verkaufte er Ledersandalen, Mützen, Sonnenöl, Badelaken, Schlüsselanhänger, T-Shirts, selbstgemachten Schmuck, Sonnenbrillen und gelegentlich Kif an Touristen. Es war kein übermäßig erfüllendes Leben, aber es wäre vermutlich noch lange so fortgegangen, wenn Jean nicht eines Tages am Strand von Targat zufällig dem charismatischen Edgar Fowler III begegnet wäre. Die beiden stolperten geradezu übereinander, und sie erkannten einander sofort. Links Siddhartha, rechts Feltrinelli, Brüder im Geiste, und

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